Wohnratgeber 14: Ära der Arten
Wunderkammer Wohnen – oder was jeder Inneneinrichtung die richtige Würze verleiht.

Auch wenn uns die Mid-Century-getränkten Neuheiten der Möbelmessen so sehr einlullen: Besonders aufregend sind sie nicht. Damit der Ausstieg aus dieser geschmacksneutralen Kuschelzone gelingt, braucht man exzentrische Hilfsmittel. Sie entführen geradewegs in eine wilde Mischung aus Showbühne, Wunderkammer, Dschungelcamp und Privatzoo. Vorhang auf für eine Auswahl an Möbeln und Requisiten, die mit Schlangen, Tigern und Kakteen die Wildnis in die eigenen vier Wände holt.
Über Geschmack lässt sich streiten – und zwar vortrefflich! Schließlich sind es die uneindeutigen und grenzwertigen Dinge, die den Alltag spannend machen. Während die Einen mit dem Strom schwimmen und einfach auswählen, was überall zu sehen und zu haben ist, begeben sich Andere auf die Suche nach dem Seltsamen, Kuriosen und Abseitigen. Kurzum: Das, was aus der breiten Masse hervorsticht und jeder Inneneinrichtung die nötige Würze verleiht.
Domestizierter Dschungel
Die Regeln hierbei sind einfach: Was nicht jedem gefällt, eignet sich per se. Was nicht nur haarscharf an der Grenze zum schlechten Geschmack vorbeirutscht, sondern sie durchaus zu überschreiten vermag, ist umso besser. Was andere zur Verzweiflung bringt, wirkt geradezu perfekt. Worum es geht, ist das Betreten ungesicherter Pfade. Diese halten zwar einige Gefahren und Ausrutscher bereit. Doch dafür entlohnen sie mit unverhofften Perspektiven. Und so wird das derzeit im Wohnen dauerpräsente Naturthema nicht nur mit grünen Uni-Bezügen und üppigen Zimmerpflanzen aufgegriffen. Der Dschungel dringt mitunter sogar auf überaus wortwörtliche Weise in den Wohnraum vor und verwandelt ihn in eine von Flora und Fauna dicht besiedelte Wildbahn, in der alles erlaubt ist.
Eine Schlüsselrolle fällt hierbei der Wiederbelebung der Raumgrenzen zu. Anstatt die Wände mit neutralem Weiß unkenntlich zu machen, ziehen sie bewusst die Blicke auf sich. Vor allem in England ist in den letzten Jahren eine stattliche Zahl an Tapetenmanufakturen aus dem Boden gesprossen, die historische Opulenz mit gesunder Ironie vermischen und somit behutsam in die Gegenwart überführen. Ganz in seinem Element ist hierbei das 2014 gegründete Label Witch & Watchman, dessen Tapetenmodell Amazonia von Eulen, Pfauen, Eichhörnchen und unzähligen anderen Tieren bevölkert wird. Solche Mitbewohner lassen gewiss keine Langeweile im Wohnzimmer aufkommen.
Als Inspiration dienten Label-Gründerin und Designerin Helen Wilson exzentrische Tapeten alter Hollywood-Villen sowie die Kulissen verschiedener Film-Noir-Klassiker. Um den Sprung von der Fläche in den Raum zu meistern, werden vom Londoner Hersteller House of Hackney Dekore wie Limerence und Florika keineswegs nur als Wandbespannung angeboten, sondern ebenso als Bezugsstoffe für Polstermöbel oder passende Leuchtenschirme. Letztere sind mit stilechten Ananas-Füßen ausgestattet, die jedes Sideboard oder jeden Kaminsims in eine tropische Showbühne verwandeln.
Das Polstermöbel
In den Dschungel entführt das italienisch-dänische Designerduo GamFratesi mit dem Beetle Lounge Chair für Gubi. Einen tropischen Einschlag garantiert ein Palmen-Bezug der Pariser Stoffmanufaktur Pierre Frey, der bestens mit der warmfarbigen Materialität des Messinggestells harmoniert. Florale Motive findet man ebenfalls beim sonst eher puristischen Möbellabel e15. Das Sitzprogramm Kerman steht mit dem Bezug Alice zur Auswahl, der von großformatigen Blüten, Pflanzenblättern und stolzierenden Hirschen bevölkert wird. Wahre Klassiker sind die bunten Sitzbezüge, die Josef Frank in den Vierzigerjahren für das vornehme Stockholmer Einrichtungshaus Svenskt Tenn entworfen hat und die bis heute auf eine sinnliche Entdeckungsreise entführen.
Auch hier werden die mit Vögeln, Kraken, Hummern, Früchten und Blumen übersäten Dekore zugleich als Kissen, Tapeten oder Tablets angeboten, um vielseitige Anwendungen in den heimischen vier Wänden zu erlauben. Eher haarig hingegen geht es beim derzeit angesagten Mailänder Designbüro Dimore Studio weiter. Dessen Apartmentgalerie in der Via Solferino wurde jüngst in eine von düsteren Farben erfüllte Dschungelwelt verwandelt. Als Hingucker dienen nicht nur voluminöse Sofas, die mit dicht verschlungenen Blätter-Stoffen bezogen sind. Der puristische Sessel Poltrona 008 ist innen und außen mit Zottelfell überzogen – als hätte man einen Möbelentwurf von Donald Judd mit einem Grizzlybären gekreuzt.
Der Stuhl
Dem Naturthema widmet sich der Pariser Mode- und Möbeldesigner Rick Owens mit den dreibeinigen Stühlen Onedent und Trident. Seine cremeweiße Farbe verdankt er einem für Möbel recht ungewöhnlichen Material: Rinderknochen. Um nicht allzu martialisch zu erscheinen, wurden die Gebeine zuvor in rechteckige „Bausteine“ geschnitten und an der Oberfläche des Möbels nebeneinander montiert. Der Reiz dieses Möbelstücks liegt in seiner Abstraktion: Das Wilde, Brutale und Ursprüngliche wird mit einer leisen, zurückhaltenden Formensprache gepaart, die auf raffinierte Weise zwischen Steinzeit-Archaik und Gruselkabinett zu changieren vermag.
Garantiert kuschelfrei geht auch der brasilianische Designer Hugo França ans Werk. Seine Chaise Inquirim (editiert von der Galerie Mercado Moderno, Rio De Janeiro) entpuppt sich als eine eindrucksvolle Sitz-Skulptur, die aus einem 900 Jahre alten Pequi-Baum gefertigt wurde. Die bis zu 45 Meter hohen Gewächse verfügen über drei Meter breite Stämme und ein entsprechend mächtiges Wurzelwerk. Wie Archäologen beförderten França und sein Team die Wurzeln behutsam ans Tageslicht und verwandelten sie mithilfe einer Kettensäge in ein aufragendes Möbelstück, dessen unregelmäßige Verästelungen, Löcher und Rillen eine spannungsvolle Haptik entfalten.
Lüster sind die Paukenschläge in jedem Einrichtungsorchester. Eine schwebende Wolke hat Marcel Wanders mit Perseus für die venezianische Manufaktur Barovier & Toso ersonnen. Die einzelnen Glaskörper ordnen sich entlang von strahlenförmigen Achsen an, als wären sie durch eine Explosion in alle Richtungen geschleudert worden. Auf spielerische Akkumulation setzt ebenso der 3,5 Meter hohe Leuchter Balloton von Venini. Rund 700 Glaskugeln hängen von der Decke herab und lassen an Luftblasen denken, die inmitten einer imaginären Unterwasserlandschaft nach oben steigen. Der Entwurf ist bereits 1962 vom Atelier Venini angefertigt worden und konnte nun nach einer technischen Umrüstung auf LEDs wieder ins Programm genommen werden. „Mehr ist mehr“, verlautet dieser Lüster, der in rauen Industrielofts ebenso eine gute Figur abgibt wie in prächtigen Palästen.
Der Teppich
Dem Naturthema widmet sich Jan Kath mit der Teppichserie Jungle. Die Motive lassen den Blick hinauf in Baumkronen wandern, die sich auf unterschiedliche Weise zum Himmel öffnen. Auch die Hersteller CC Tapis, Nodus und Armani Casa bespielen den Boden mit exotischen Blätterstrukturen, die für einen lebhaften und dynamischen Auftritt sorgen. Zwar nicht handgeknüpft, doch dafür umso poppiger, kommen die Teppiche aus der Toiletpaper-Edition von Seletti daher. Die vom Künstler Maurizio Cattelan und dem Fotografen Pierpaolo Ferrari ersonnenen Motive lassen eine Katze in Pillen baden oder eine Gruppe von Giftschlangen auf einem Schlagzeug posieren. Das ist laut, schrill und durchgeknallt – und damit genau richtig, um dem derzeit etwas müde gewordenen Wohnen wieder neuen Schwung zu verleihen.
Das Accessoire
Entscheidende Akzente setzen ohnehin die Accessoires. Eine wahre Fundgrube verbirgt sich unweit der Pariser Place Victoire, wo in den Räumen des Geschäfts Design & Nature eine eindrucksvolle Auswahl präparierter Tiere aufgeboten wird – von ausgestopften Löwen, Tigern, Eisbären, Pfauen und Eulen über Skelette von Schlangen und Katzen bis hin zu kunstvoll arrangierten Schmetterlingswolken oder explosionsartig zergliederten Riesenlangusten. Die Tiere wirken nicht so düster oder seltsam erstarrt wie in den Sammlungen vieler Naturkundemuseen, sondern erstaunlich lebensecht in Szene gesetzt – fast so, als würden sie sich jeden Moment in Bewegung setzen.
Etwas weniger Nervenkitzel, doch dafür umso mehr Exzentrik bieten die animalischen Accessoires des Mailänder Ausstatters Bernasconi. Im Ladengeschäft an der Via Manzoni werden seit 1872 Korkenzieher, Zigarrenschneider und Feuerzeuge aus den XXL-Hörnern verschiedener Wildtiere gefertigt. Als passende Tischdekoration dienen auf Marmorsockeln aufbereitete Muscheln, Korallen und Büffelhörner, während ebenso aus Horn gefertigte Tische, Stumme Diener und Leuchten das wilde Wohnensemble abrunden.
Würze statt Fadheit
Was wir daraus lernen: Ein, zwei Jagdgeweihe sind für den Anfang gar nicht so schlecht. Doch die wirklichen Wild-Life-Experten bedienen gleich die gesamte Klaviatur des Wohnens, ohne auch nur einen Gedanken an politische Korrektheit zu verschwenden oder den Rat befreundeter Architekten einzuholen. In die gute Stube kommt das, was gefällt. Wer bei so viel wilder Würze noch immer nach faden Mid-Century-Möbeln Ausschau hält, ist selber schuld.
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