Die nordrhein-westfälische Möbelmanufaktur COR ist bekannt für anspruchsvolle Wohn- und Büromöbel. Seit 25 Jahren lenkt Leo Lübke die Geschicke des Unternehmens, das sein Vater 1954 gegründet hat. Ein guter Zeitpunkt, um zurückzublicken – und nach vorne. Ein Gespräch über Unternehmeraufgaben, Chrom und weißes Leder sowie über demokratisches Design.
Wir sitzen im COR Haus in Rheda-Wiedenbrück, dem Showroom des Familienunternehmens, das neben den aktuellen Kollektionen für Wohnraum- und Büromöbel auch eine Ausstellung der Produkte aus sieben Jahrzehnten Unternehmensgeschichte beherbergt. Genau der richtige Ort, um mit Leo Lübke über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Wohnens und Arbeitens zu sprechen.
Herr Lübke, Sie sind seit 1995 Geschäftsführer der Marke COR. Welche Herausforderungen stellten sich Ihnen damals?
Eine der Herausforderungen, als junger Mensch ein Unternehmen zu übernehmen, bestand darin, dass man natürlich einiges ändern möchte. Und es wird auch erwartet, dass ein Unternehmen durch einen jungen Geschäftsführer eine Art Frischzellenkur erfährt. Auf der anderen Seite wollte ich aber auch die guten Dinge erhalten. In manchen Unternehmen muss man eine Revolution starten, um etwas aufzubrechen. Das war glücklicherweise bei COR nicht der Fall.
Ich habe mit vielen Designern weitergearbeitet, mit denen mein Vater schon gearbeitet hatte. Zum Beispiel mit Peter Maly, der Ende der Sechzigerjahre bei uns anfing. Er hat später neben Möbeln auch Messestände für uns entworfen und viele Produktionen begleitet. Wir haben ihm viel zu verdanken. Trotzdem habe ich versucht, auch jüngere Designer an Bord zu holen. Holger Janke etwa, er entwarf den Stuhl Fino. Oder kressel + schelle aus Hamburg, die den Trinus-Sessel entwickelten. Der Sessel ist immer noch in unserer Kollektion. Etwas später begann die Zusammenarbeit mit Studio Vertijet und jehs + laub.
Welchen Stil vertrat die Einrichtungsbranche Ende der Neunzigerjahre?
Dazu muss man weiter zurückblicken. Auf alten Reklamefotos wird es offensichtlich: In den Fünfzigerjahren saßen die Menschen streng und fein auf kleinen Cocktailsesselchen. In den Siebzigerjahren wurde das Design dann lässig und üppig. Es strahlte aus: Uns gehört die Welt – und der Mond. In den Achtzigerjahren kehrte das Thema Bauhaus kritisch zurück. Eine Befreiung von der Funktionalismusdebatte vollzog sich. Statt „less is more“ hieß es jetzt „less is war“ und „form follows fun“. Doch was als Manifest der Memphis-Gruppe gedacht war, entwickelte sich rasch zu einer Modeströmung. Unter diesem Bunten, Üppigen, zu Verspielten und fast Mickymaushaften haben wir lange gelitten. Es war bald nicht mehr zu ertragen. Und dann kamen die Neunzigerjahre. Sie waren geprägt von Reduktion und Designern wie Jasper Morrison mit seinem Moca Chair. Ein Manifest der Einfachheit, das eine Menge ausgelöst hat. In den Neunzigerjahren kam auch die Hightech-Architektur auf, mit viel Glas und Stahl. Diese Architektursprache hat sich ebenfalls auf die Innenarchitektur übertragen.
Können Sie das bitte näher beschreiben?
Damals war Leder immer schwarz, dunkelbraun oder mal ganz weiß. Das war cool: weiße Fliesen, Chrom und weißes Leder – da beginnt man heute gleich zu frieren. Damals war es en vogue! Heute muss es wohnlicher und kuscheliger sein – bis hin zu den Schäumen. Früher waren die Stühle am Esstisch dünn gepolstert, heute gleichen sie Sesseln.
Hatte man zu Beginn des 21. Jahrhunderts andere Vorstellungen vom Wohnen als heute?
Das ändert sich ja stets ein wenig. Heute müssen die Möbel zumindest sehr wohnlich sein. Nicht nur bezüglich der Bequemlichkeit. Man möchte kein Metall mehr zeigen. Holz kommt wieder, wird aber modern interpretiert. Selbstverständlich steckt etwas dahinter: die Sehnsucht nach Natürlichkeit, nach warmen Materialien.
Es gibt fast keinen Bereich, der von der Digitalisierung nicht erfasst wurde. Ich denke, dass durch das Internet und seine ständige Verfügbarkeit auf der einen Seite alles vorhanden ist. Andererseits müssen wir uns umso mehr fragen, warum machen wir das so?
Ich denke, wir sind dazu da, etwas zu schaffen, an das sich der Mensch halten kann. Wohnen ist etwas ganz Persönliches. Man geht nach Hause und möchte seine Ruhe haben, für sich sein. Dazu müssen wir mit unseren Möbeln einen Beitrag leisten. Dass man sich nicht einen Stil einkauft, sondern mit Möbeln seine eigene Welt kreieren kann. Die ist natürlich nie unabhängig von dem, was gerade Trend ist. Aber davon muss man sich nicht anstecken lassen. Wir überlegen für uns, was wir für richtig halten.
Eigentlich bietet die Möbelbranche dem Kunden ja Beständigkeit. Trotzdem sind Hersteller immer erpicht darauf, etwas Neues zu bringen, obwohl es vielleicht gar nicht richtig neu ist. Wir müssen uns also selbstkritisch hinterfragen, für wen wir das tun. Ein Kunde geht alle 20 Jahre ins Möbelhaus. Bei jedem neuen Produkt stellen wir uns deshalb die Frage: Was kann das denn besser als das Alte? Wir versuchen, Möbel zu machen, die sehr reduziert sind und trotzdem Charakter haben. Möbel, die einfach sind – Archetypen.
Schauen wir zum Schluss noch in die Zukunft. Wie werden wir wohnen und arbeiten – oder machen wir beides gleichzeitig?
Wie man in den letzten 20 Jahren schon beobachten konnte, werden die Übergänge fließend. Gerade jetzt – durch die Coronakrise – hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Aber auch wenn es heute danach aussieht, als würden wir in Zukunft nur noch von Zuhause arbeiten - irgendwann werden die Leute wieder sagen: Hier ist mein Wohnraum, der Ort an dem ich mich zurückziehen kann, alleine oder mit der Familie. Und dies ist mein Arbeitsplatz, hier kann ich mich mit en Kollegen austauschen und mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Ich bin davon überzeugt, dass der räumliche Wechsel zwischen Arbeit im Büro und Entspannung zu Hause gesund und wichtig ist.
Der Beitrag ist Teil der Dossier Reihe: 2000-2020: 20 Jahre Interior & Design
Über Leo Lübke:
1963 im westfälischen Rheda-Wiedenbrück geboren, absolvierte Leo Lübke zunächst eine Banklehre, bevor er an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel Industriedesign studierte. Während seiner Studienzeit fasste er den Entschluss, in das väterliche Unternehmen einzusteigen und übernahm 1995 die Leitung des Polstermöbelherstellers COR. Das 1954 von seinem Vater Helmut egründete Unternehmen fertigt mit 220 Mitarbeitern ausschließlich am Standort Rheda-Wiedenbrück im Kreis Gütersloh.
FOTOGRAFIE © COR Sitzmöbel
© COR Sitzmöbel

COR
Damit ein Möbel aber all diese Qualitäten erfüllen kann, müssen vorab sehr viele Menschen vieles sehr richtig gemacht haben. Sie müssen, zum Beispiel, die besten Materialien ausgewählt haben. Sie müssen diese nach höchsten handwerklichen Standards verarbeitet und geprüft haben. Und vor alledem steht der kluge Entwurf eines Designers, der all das vorwegnimmt, was das Sitzen, Entspannen und Wohnen über Jahre hinweg zu einem Vergnügen macht. Diese Art von Möbeln fertigen wir bei COR.
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