Handmade in Marseille
Studiobesuch bei Sarah Espeute von Œuvres Sensibles

Weingläser, Granatäpfel, Hände oder einfach nur Worte. Das sind die gestickten Motive, mit denen Sarah Espeute arbeitet. Mit ihrem Label Œuvres Sensibles haucht die französische Designerin Vintage-Textilien neues Leben ein und fertigt daraus Kissenbezüge, Tischdecken sowie Bettüberwürfe. Ein Besuch in ihrem Studio in Marseille offenbart unbändige Schaffensfreude, dekorative Arrangements und Stickereien, die gute Laune machen.
Als wir Sarah Espeute im Sommer 2025 in ihrem Studio in Marseille besuchen, ist sie gerade erst eingezogen. Die Räume in der Rue Villeneuve 7 befindet sich in einem unscheinbaren Gebäude ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Doch vom Trubel rund um den Gare Saint-Charles ist hier nicht viel zu spüren. Die mehrstöckigen Wohnhäuser in der ansteigenden schmalen Straße trotzen der Sommerhitze – Geschäfte, Cafés oder Restaurants sucht man vergebens. Eine verglaste Fensterfront weist darauf hin, dass sich hier ein Atelier befindet. Das war nicht immer so, denn in dem rund 300 Quadratmeter großen Studio befand sich ursprünglich eine Werkstatt, die später von Sarah Espeutes heutiger Vermieterin umgebaut und als Künstleratelier und Wohnung genutzt wurde. Das erzählt uns die Mittdreißigerin, die vor fünf Jahren das Label Œuvres Sensibles gegründet hat.
Adieu Paris, bonjour Provence
Ursprünglich hat Sarah Espeute Angewandte Kunst mit Schwerpunkt Visuelle Kommunikation in Paris studiert und einige Zeit als Grafikdesignerin gearbeitet. 2019 entschied sie sich, wieder in die Provence zurückzukehren. Auch weil es hier einfacher als in der Hauptstadt ist, als Selbständige in der Kreativbranche zu arbeiten, vor allem der niedrigeren Lebenskosten wegen. Und weil es seit einigen Jahren eine direkte TGV-Verbindung von Paris nach Marseille gibt, ziehen immer mehr Künstler*innen und Designer*innen in die Stadt am Mittelmeer, die das unbestrittene Wirtschafts- und Kulturzentrum Südfrankreichs ist. Auch Espeute verschlug es nach Marseille, obwohl sie eigentlich aus Arles stammt – einer Kleinstadt, keine Stunde entfernt von der Hafenmetropole.
Hobby? Business!
Was als private Passion begann, sollte sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda schnell in ein echtes Business verwandeln. Espeutes Idee: Vintage-Textilien in Servietten, Tischdecken, Geschirrtücher, Bettüberwürfe, Kissenbezüge und Vorhänge umzuarbeiten, mit einfachen Motiven wie Muscheln, Blüten und Früchten zu besticken und dabei die ursprünglichen Elemente – wie beispielsweise Lochstickereien – mit in den Entwurf einzubeziehen. Die Textilien findet die Designerin auf Flohmärkten oder auf dem französischen Internetportal Leboncoin. Nachdem Espeute noch einige Zeit als Grafikerin Geld hinzuverdiente, kann sie inzwischen von den Einnahmen ihres Labels leben. Instagram habe ihr dabei geholfen, ihre Geschäftsidee in die Welt zu tragen und das Label bekannt zu machen, erzählt die Designerin, die inzwischen fast 180.000 Follower*innen hat. Die meisten ihrer Entwürfe verkauft sie über ihren Webshop, aber auch in ausgewählten Stores wie Merci in Paris. Außerdem wird sie von Kund*innen direkt beauftragt.
Alles Liebe oder was?
Gerade ein bildlastiges Medium wie Instagram ermöglicht es Designer*innen wie Sarah Espeute, gesehen zu werden und erfolgreich zu sein. Denn auch wenn das Besticken von bereits vorhandenen Textilien nicht wirklich etwas Neues ist und die Stickereien alles andere als handwerklich ausgefeilt sind: Wahrscheinlich ist es gerade diese Einfachheit, die die Entwürfe von Sarah Espeute so anziehend macht. Die textilen Stücke, die allesamt ziemlich „instagrammable“ sind, haben immer etwas Charmantes, wenn auch Gefälliges. Sie sind Gute-Laune-Macher, spielen mit Erinnerungen und Sehnsüchten, wenn beispielsweise Servietten mit Wörtern wie Amour, Bon Vivant oder Romantique bestickt sind. Nachhaltigkeit und Wiederverwertung sind ein wichtiger Teil von Espeutes Geschäftsmodell, schließlich bekommen alte Textilien wie hochwertiger Damast – die ansonsten entsorgt werden oder bestenfalls in Schubladen verstauben würden – ein zweites Leben. Das Schöne an den Arbeiten ist nicht allein, dass sie einen praktischen Nutzen mit einem spielerischen Design verknüpfen. Sämtliche Stücke werden in Marseille per Hand gefertigt: von Espeutes Mitarbeiterinnen im Studio, aber auch in Hausarbeit. Die Frauen, die damit zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen, werden angelernt und pro fertiges Stück bezahlt, erzählt die Designerin.
Werkstatt, Studio & Showroom
Das Herzstück von Œuvres Sensibles ist das Studio beim Gare Saint-Charles. Die beeindruckend große Fläche unterteilt sich in einen Arbeits- und Werkstattraum mit schöner Kappendecke. Hier treffen Präsentations- und Arbeitstische auf eine Küchenzeile und eine gemütliche Sitzecke. Auf Vintage-Sofas liegen bestickte Kissen und Überwürfe aus der eigenen Kollektion, alte Orientteppiche beleben den Betonboden. In den Regalen drängen sich allerlei Alltagsgegenstände. Espeute hat ein Händchen für eklektische Arrangements, wie sich auch im Küchenbereich zeigt. Hier mischt sie italienische Metalleisbecher aus den Sechzigern mit Porzellantellern aus der Serie Wildrose von Villeroy & Boch, bestickten Geschirrtüchern von Œuvres Sensibles und einer alten Kaffeemühle, die nun als Pfeffermühle zum Einsatz kommt. Zum Arbeits- und Wirtschaftsraum gesellen sich im hinteren Teil des Studios ein lichtdurchflutetes Textillager sowie ein Office im ersten Geschoss.
Ausweitung der Designzone
Zukünftig soll das Studio auch als Showroom fungieren, um neue Zielgruppen anzusprechen. Sarah Espeute würde beispielsweise gern mit Köchen und Restaurants zusammenarbeiten, erzählt sie. Bisher ist ihre Klientel eher privater Natur, kauft im Webshop ein oder gibt Einzelstücke in Auftrag. Die Designerin überlegt auch, eine eigene Kollektion mit weniger aufwendigen und deshalb günstigeren Produkten zu entwerfen, die dann vor Ort verkauft werden könnten. Und sie möchte ihre Produktrange um Keramik- und Glasobjekte erweitern. Sarah Espeute ist voller kreativer Ideen für ihr Label Œuvres Sensibles, doch erst einmal muss sie ihr neues Zuhause einrichten: eine Terrassenwohnung über den Dächern von Marseille.
Œuvres Sensibles
oeuvres-sensibles.comArchitektur, Kunst & Design in Marseille und Umgebung
www.baunetz-id.deMehr Menschen
Welt aus Kork
Der New Yorker Architekt David Rockwell über das neue Potenzial eines alten Materials

Voller Fantasie
Studiobesuch bei Joana Astolfi in Lissabon

Auf ein Neues!
Fünf Architektur- und Designbüros stellen ihren Re-Use-Ansatz vor

Nachhaltigkeit beginnt im Inneren
Gabriela Hauser über die Rolle der Innenarchitektur bei der Bauwende

„Die Hände haben eine eigene Intelligenz“
Das Berliner Designduo Meyers & Fügmann im Gespräch

Marrakesch, mon amour
Laurence Leenaert von LRNCE interpretiert das marokkanische Handwerk neu

Konzeptionelle Narrative
Studiobesuch bei Lineatur in Berlin

New Kids on the Block
Junge Interior- und Designstudios – Teil 3

„Einfach machen, nicht nachdenken“
Der Designer Frederik Fialin im Gespräch

„Schweizer Design ist knäckebrotmäßig auf die Essenz reduziert!"
Christian Brändle vom Museum für Gestaltung Zürich im Gespräch

Entwürfe für die Neue Wirklichkeit
Ein Interview mit dem Museumsgründer Rafael Horzon

„Wir wollen einen Kokon schaffen“
studioutte aus Mailand im Interview

Berliner Avantgarde
Studiobesuch bei Vaust in Berlin-Schöneberg

Designstar des Nahen Ostens
Hausbesuch bei der libanesischen Gestalterin Nada Debs in Dubai

Cologne Connections
Junge Designer*innen sorgen für frischen Wind in Köln – Teil 2

Design als Klebstoff
Junge Gestaltende sorgen für frischen Wind in Köln – Teil 1

Hilfsaktion in Kalifornien
Das Möbellabel Kalon Studios aus L.A. spricht über seinen „Wildfire Relief Free Market“

„Alles muss wandelbar sein“
Stephanie Thatenhorst über Interiortrends 2025

Feuer gefangen
Ein Studiobesuch bei Milena Kling in Berlin-Prenzlauer Berg

Weniger ist mehr
Ein Gespräch mit dem Berliner Architekten Christopher Sitzler

Ode an die Emotion
Interview mit dem französischen Designer Benjamin Graindorge

Maximale Formbarkeit
Ein Gespräch über Architekturbeton mit Silvia und Bernhard Godelmann

Townhouse in Mitte
Zu Besuch beim Berliner Architekten Patrick Batek

Design-Statements auf der Wand
Ein Interview mit Julian Waning von Gira

Mehr Seele fürs Holz
Formafantasma und Artek im Gespräch

Dialog durch die Zeit
Der Schweizer Galerist und Restaurator Reha Okay im Gespräch

Der finnische Designmaterialist
Studiobesuch bei Antrei Hartikainen in Fiskars

Reif fürs Collectible Design
Studiobesuch bei Gisbert Pöppler in Berlin

Erhöhte Erdung
Sebastian Herkner über sein neues Sofaprogramm für Ligne Roset

„Qualität und Nachhaltigkeit gehören zusammen“
Ein Gespräch mit Johanna Ljunggren von Kinnarps
