Konzeptionelle Narrative
Studiobesuch bei Lineatur in Berlin

Dass Dana Mikoleit und Janis Nachtigall Materialien und Farben schätzen, ist all ihren Projekten anzusehen – egal ob Privathäuser, Restaurants oder Büros. Und auch ihr Faible für skandinavisches Design blitzt dabei immer wieder hervor. Die beiden Gründerinnen von Studio Lineatur sprachen mit uns über Freundschaft im Job, die Kunst an gute Aufträge zu kommen und ein neues Projekt, über das sich alle Berliner Designenthusiast*innen freuen werden.
In der baumbestandenen Choriner Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg steht das Estradenhaus des Architekten Wolfram Popp, das aus den Neunzigerjahren stammt. Dort ist das Studio von Lineatur untergebracht, das aus einem rund hundert Quadratmeter großen Raum besteht, der von Küche und Bad durch eine Holzfaltwand abgetrennt ist.
Arbeiten im Estradenhaus
Beim Betreten des Studios überblickt man sogleich den gesamten Space, der auf beiden Seiten mit raumhohen Fensterfronten und Balkonen versehen ist, sodass viel Licht ins Innere fällt. Dort befinden sich auch die sogenannten Estraden – das sind vom Fußboden erhöht abgesetzte Elemente, die die große Fläche geschickt unterteilen und von Lineatur als Materialarchiv beziehungsweise Sitzecke genutzt werden. Während eine Seite des Raums zur Choriner Straße ausgerichtet ist, blickt man auf der gegenüberliegenden Seite auf idyllisch begrünte Freiflächen, die von Altbauten gesäumt werden. Das Interior mit dem Sisalboden, der zurückhaltenden Farbgebung und sparsamen Möblierung mit niedrigen Regalen, Arbeitstischen und Sitzecken mutet beinahe japanisch an. Hier befand sich ursprünglich das von Lineatur gestaltete Büro von Kaffeeform, dem Unternehmen von Nachtigalls Ehemann Julian Lechner.
Das Studio von Lineatur befindet sich im sogenannten Estradenhaus des Architekten Wolfram Popp in Berlin-Prenzlauerberg.
Aus der Krise gewachsen
Dana Mikoleit und Janis Nachtigall haben Lineatur 2019 zusammen mit der Artdirektorin Pia Held gegründet. Inzwischen führen die beiden Interiordesignerinnen das Studio mit drei Mitarbeiterinnen allein. Dass das Team ausschließlich weiblich ist, sei aber so nicht geplant gewesen und spiele im Alltag auch keine Rolle, sagt Mikoleit. Die Pandemie hatte 2020 das ganze Geschäftskonzept von Lineatur infrage gestellt, denn ursprünglich hatten sich die Gründerinnen auf Hospitality-Projekte spezialisiert. Sie gestalteten Restaurants und Cafés und träumten davon, einmal ein komplettes Hotel einzurichten. Dabei hatten sie einen ganzheitlichen Gestaltungsansatz im Sinn, der neben dem Interiordesign auch Markenentwicklung sowie grafische Elemente – wie beispielsweise Menükarten und Mitarbeiterkleidung – umfasste. Für deren Konzeption und Gestaltung war Pia Held verantwortlich. Doch als während der Pandemie Restaurants und Hotels schließen mussten und neue Projekte auf Eis gelegt wurden, orientierte sich Lineatur um – in Richtung Residential-Design.
Restaurant Authentikka in Berlin-Mitte
Know-how bündeln
In dieser schwierigen Situation traf es sich gut, dass Mikoleit und Nachtigall gut vernetzt sind, was auch mit ihrem Familienhintergrund zu tun hat. Zufälligerweise sind beide Töchter von Architektinnen. Während Nachtigall an der TU Berlin Architektur studiert hat und danach einige Jahre als Projektleiterin des 25hours Hotel Bikini Berlin bei Studio Aisslinger auch im Interiordesign tätig war, arbeitete Mikoleit nach ihrem Studium der Innenarchitektur an der Burg Giebichenstein in Halle bei einem klassischen Architekturbüro in Hamburg, ehe sie sich selbständig machte und an privaten Residential-Projekten arbeitete. „Ich wollte kreativer und näher am Material sein“, begründet sie ihren Wechsel in die Freiberuflichkeit. Es sei auch recht einfach für sie gewesen, an interessante Projekte zu kommen, weil ihre Mutter ihr geholfen habe, erzählt sie.
Mikoleit und Nachtigall waren zuerst Freundinnen, ehe sie Geschäftspartnerinnen wurden. Lineatur gründeten sie auch mit der Idee, ihr Know-how zu bündeln, Synergien zu schaffen, Verantwortung zu teilen und mehr persönliche Freiräume zu haben. „Ich fand es irgendwann langweilig, allein zu arbeiten“, sagt Nachtigall. „Mir hat der Austausch gefehlt.“ Dass sich die Gestalterinnen gut kennen und verstehen, merkt man ihnen jedenfalls an. Sie scheinen sich nicht nur fachlich zu ergänzen, sondern sind beide selbstbewusst und brennen für ihren Job.
Artists Village in Berlin
Individuelle Gestaltungskonzepte
Seit einigen Jahren arbeitet Studio Lineatur vor allem für private Auftraggeber*innen, wobei Sanierungen, Renovierungen und Modernisierungen von Bestandsbauten im Fokus ihrer Arbeit stehen. Dabei kooperieren sie auch mit anderen Unternehmen, beispielsweise im Bereich Lichtplanung mit PSLab und ELOA. Auch mit Studio Milena Kling stehen sie im engen Kontakt. Während die meisten der privaten Projekte von Lineatur im Premiumsegment angesiedelt sind, arbeiten sie gerade an einem Projekt, das finanziell nicht gedeckelt ist – ein Traum für jeden Interiordesigner, wie sie sagen.
Am Anfang eines Entwurfs steht bei Lineatur immer ein sogenannter Look&Feel-Workshop, bei dem sie gemeinsam mit den Bauherr*innen Moodboards erarbeiten, um ein individuelles Konzept zu erstellen. So entstehe ein konzeptionelles Narrativ, das als Leitfaden für den gesamten gestalterischen Prozess diene, sagen die Designerinnen. Dieser Prozess reicht von der Grundrissoptimierung über das Entwerfen maßgefertigter Einbaumöbel bis hin zur Auswahl von Farben und Materialien. Schaut man sich in den Studioräumen von Lineatur um, dann kann man sich gut vorstellen, wie das funktioniert. Dort ist der Material- und Farbpräsentation ein eigener Bereich gewidmet. Neben Ständern mit Polster- und Vorhangstoffen liegen auf dem Lowboard mehrere Moodboards, für die Mikoleit und Nachtigall Stoffe, Natursteinplatten und sogar Armaturen zu harmonischen Kompositionen arrangiert haben.
Office-Shoroom AJ83 in Berlin-Mitte
Material matters
Die beiden Interiordesignerinnen haben ein ausgesprochenes Faible für Materialien. Es ist sogar so ausgeprägt, dass sie es zukünftig mit anderen Innenarchitekt*innen und Designenthusiast*innen teilen wollen. In Berlin gäbe es schlichtweg keinen öffentlich zugänglichen Raum, wo man zusammenkommen, sich inspirieren lassen und Gestaltung auch sinnlich in einem ästhetischen Umfeld erfahren könne, sagen sie. Deshalb haben sie sich vorgenommen, solch einen (generationsübergreifenden) Ort samt einer Materialbibliothek zu schaffen, die nicht nur das Premiumsegment abbilde – unabhängig von ihrer Arbeit für Lineatur. „Wir stellen uns einen Ort vor, an dem man spielerisch sein und Dinge ausprobieren kann“, sagt Mikoleit.
Den Traum vom eigenen Haus haben sich die beiden Kreativen bereits erfüllt – beziehungsweise arbeiten gerade daran. Während Dana Mikoleit mit ihrer Familie und ihrer Mutter in einem umgebauten dreistöckigen Backsteinhaus aus den Dreißigerjahren in Königs Wusterhausen wohnt, baut Janis Nachtigall demnächst ein Haus in Dahlem um. Und dann wäre da noch ihr großer Traum, den sie noch nicht ad acta gelegt haben: einmal mit Lineatur das Interiordesign für ein komplettes Hotel zu entwerfen.
Studio Lineatur
www.studiolineatur.comMehr Menschen
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