Menschen

Menschliche Räume

Der Mailänder Innenarchitekt Hannes Peer im Gespräch

Hannes Peer lässt Räume Geschichten erzählen. Der gebürtige Südtiroler hat nach seinem Architekturstudium am Mailänder Polytechnikum und der TU Berlin im Office for Metropolitan Architecture (OMA) gearbeitet. Anschließend gründete er sein eigenes Büro für Innenarchitektur und Design in Mailand. Ein Gespräch über fließende Räume, goldene Küchen und eskapistische Gefahren.

von Norman Kietzmann, 20.10.2022

Kommunikation ist heute alles: Du bezeichnest Deinen Instagram-Account als utopische Nostalgie oder nostalgische Utopie. Was meinst Du damit?
Es ist ein Archiv meiner Recherche zur Imperfektion. Ich sammle dort alles, was ich spannend finde. Auf der einen Seite schaue ich zurück. Auf der anderen Seite suche ich nach zukunftsweisenden Dingen. Das eine schließt das andere nicht aus. Im Gegenteil: Das eine braucht das andere sehr stark. Man kann es auch einfach Kultur nennen – auf Dingen aufzubauen und sie nicht sterben zu lassen. Das ergibt einen überaus eklektischen Mix.

Das Ergebnis ist kein verbindlicher Stil, sondern eine Mixtur von vielen Stilen?
Ja, im Grunde ist es wie bei meinen Entwürfen. Sie sind sehr stark auf die Kunden gepolt. Ich zwänge ihnen nicht auf Biegen und Brechen eine Signatur auf. Das würde mir weder Spaß machen noch fände ich es respektvoll ihnen gegenüber. Wenn ich sage, dass ein Projekt maßgeschneidert ist, dann meine ich das auch so. Deswegen sind meine Arbeiten auch ein wenig anders. Die meisten Innenarchitekten schauen sich an, was gerade Mode ist. Ich versuche, neue Klassiker zu entwerfen, ob im Design oder in der Innenarchitektur. Natürlich ist es leicht, der Mode nachzulaufen. Das Problem ist, dass es darauf ein Verfallsdatum gibt. Dann kann ein Designobjekt auch irrsinnig nachhaltig produziert sein. Wenn es nach zwei Jahren ein Wegwerfprodukt ist, weil es niemand mehr sehen kann, ist es nicht nachhaltig.

Warum hast Du Dich als Architekt aufs Interieur spezialisiert?
Das Problem in Italien ist, dass sehr wenig gebaut wird. Man gewinnt einen Wettbewerb und dann sitzt man auf seinem Projekt und es wird nicht umgesetzt, weil die Wahlen anders ausgefallen sind. Es gibt das berühmte Sprichwort: Wird der Gemeinderat gewechselt, wechselt alles. Deswegen habe ich sehr schnell mit Interieur geliebäugelt. Man kann sich kreativer ausleben als in der Außenarchitektur, wo die Bewegungsfreiheit sehr limitiert ist.

Wie würdest Du Deine Räume beschreiben?
Wenn man viele Projekte von mir sieht, erkennt man vielleicht einen roten Faden. Aber nicht bei einzelnen Projekten, weil sie doch sehr unterschiedlich sind. Vor ein paar Jahren habe ich mal ein Interview gegeben und gesagt, Minimalismus wäre Ideenlosigkeit. Das ist ein wenig an mir hängengeblieben. Ich habe nichts gegen Minimalismus. Im Gegenteil. Tadao Ando, Herzog & de Meuron oder Kazuyo Sejima haben tolle Sachen gemacht. Aber es sollte vor allem im Innenbereich einer Wohnung nicht unmenschlich sein. Denn eine Familie hat das Recht, sich auszuleben. Das verstehen viele Architekten nicht, denen der Stempel wichtiger ist. David Letterman hat einmal ein Interview mit Kanye West geführt und dabei sein gemeinsames Haus mit Kim Kardashian besucht. Alle Kinder waren weiß angezogen. Letterman ließ sich natürlich nicht bitten, als er einen Witz erkannte. Er meinte: „Sind die Kinder Requisiten? Dürfen sie sich bewegen?“ Wo bleibt die Menschlichkeit? Menschen machen Erfahrungen, sie gehen auf Reisen. Räume dürfen davon erzählen.

Das Interieur ist kein ästhetisches Korsett, sondern gibt Freiheit?
Ich finde es toll, wenn mich meine Kunden von unterwegs anrufen und fragen, ob sie sich dieses oder jedes kaufen sollen. Es gibt eine wirkliche Zusammenarbeit. Das Schönste ist, wenn meine Kunden das Projekt später selber erklären. Es kann passieren, dass ein Journalist in ein Haus oder in eine Wohnung kommt und Fragen stellt. Und dann höre ich meine Kunden über das Interieur reden, als hätten sie es eingerichtet. Ich bin dann so stolz. Sie schmücken sich nicht mit der Marke eines Designers. Hier geht es viel tiefer. Das finde ich sehr spannend.

Was macht einen guten Raum aus?
Ein Raum muss funktionieren. Da bin ich sehr pragmatisch. Ich versuche, so viel Tageslicht wie möglich in eine Wohnung oder in ein Haus hinein zu bekommen und – wenn es irgendwie geht – die Fenster zu erweitern. Ich kämpfe darum, die Breite der Rahmen um jeden Zentimeter zu reduzieren. Oder ich baue die Rahmen in der Mauer ein, um das Maximum aus einem Raum herauszuholen. Es ist nicht so, dass jede Wohnung, die auf einen zukommt, mit riesigen Fenstern und vier Meter hohen Decken ausgestattet ist. Oft hat man zu knabbern mit 2,6 Meter hohen Räumen, kleinen Fenstern und muss trotzdem das Beste herausholen. Das ist unsere Aufgabe.

Wie steht es mit den Grundrissen?
Ich mag es, wenn Räume ineinander fließen. Dennoch ist es wichtig, mit Schiebetüren Privatsphäre zu erzeugen. Ich habe fast zehn Jahre lang in einem Loft gelebt. Nicht einmal der Schlafraum war abgetrennt, nur durch Vorhänge. Ich wollte das ausprobieren. Doch irgendwann konnte ich es nicht mehr. Allein die Verbindung aus Küche und Schlafraum funktioniert nicht so gut. Man überlegt sich dann schon sehr stark, ob man Fisch kocht oder nicht. Und das soll es ja auch nicht sein. Mein Showroom in Mailand sieht aus wie eine Wohnung. Ich habe lange gesucht nach einem Raum, der zwei Höhen hat. In den Siebzigerjahren war es eher Mode. Heute sind alle Wohnungen flach. Ich finde diesen Höhensprung in einer Wohnung sehr spannend. Wie beim Conversation Pit, das es früher in den großen Villen von John Lautner und anderen gab. Man kann Räume trennen, ohne sie zu trennen.

Womit fängst Du bei einem Interieur an?
Es gibt immer ein starkes Element, um das sich eine ganze Wohnung herum dreht. In vielen Fällen ist es für mich der Kamin – ganz gleich ob mit richtiger Abzugshaube oder mit Bioethanol betrieben. Ein Kunde von mir ist Süditaliener, der Geschäftsführer der tollen Modefirma N°21. Seine Passion ist das Kochen. Also habe ich eine Küche aus handgearbeitetem Messing entworfen. Sie ist wie ein goldenes Herz inmitten einer Wohnung mit viel Zement. In diesem Fall dreht sich das ganze Interieur um die Küche herum. Die Farbpalette ist viel schwächer gehalten, damit der Goldton des Messings noch stärker herauskommt.

Du entwirfst nicht nur Räume, sondern auch viele Möbel und Leuchten.
Ja, ich entwickle sehr viele Einzelstücke für meine Kunden. Für jedes einzelne Projekt sind es mindestens ein oder zwei Prototypen – wie diese Deckenleuchte zum Beispiel. Die Nilufar Gallery hier in Mailand hat sie gesehen und daraus erst eine kleine und mittlerweile eine relativ große Serie gemacht. Beim Design bin ich durch die Galerie ein wenig ins Rampenlicht geschoben worden. Dann haben sich auch andere Firmen bei mir gemeldet. Es war eigentlich nicht geplant, Design zu machen. Aber wahrscheinlich hatte ich es immer im Hinterkopf.

Viele Deiner Interieurs werden von großen Glaslüstern bestimmt, die an die Sechziger- und Siebzigerjahre erinnern. Was interessiert Dich am Thema Glas?
Meine Mutter ist Künstlerin. Mit ihr war ich schon als Kind oft in Murano. Wie es dann so ist, will man das Vertraute irgendwann nicht mehr. Doch als ich 30 war, riefen mich zwei sehr junge Architekten an, die zwischen Mailand und Murano arbeiten. Sie meinten: „Hast du nicht Lust, etwas aus Glas zu machen?“ Ich meinte: „Okay, wenn ich etwas mache, dann wird es sehr architektonisch.“ Als sie meinen Entwurf gesehen haben, sind sie erbleicht. (lacht) So hat es angefangen. Mittlerweile ist daraus eine ganze Kollektion entstanden. Den Paysage Chandelier hat sich das Architektenteam von Christian Dior ausgesucht. Alle neuen Geschäfte werden jetzt mit diesem Leuchter ausgestattet. Das macht mich sehr stolz.

Du unterrichtest Innenarchitektur an der Naba Universität in Mailand. Was möchtest Du Deinen Student*innen beibringen?
Neugierde. Das klingt fast ein wenig lachhaft: Aber viele Menschen glauben, dass sie durch ihre Smartphones die gesamte Realität in ihrer Tasche haben. Sie denken, dass sie gar nicht mehr neugierig sein müssen. Das ist das Schlimmste überhaupt. Denn dann wird alles normiert. Das passiert im Moment sehr stark. Man sieht das an den Likes in den sozialen Netzwerken. Vor drei, vier Jahren war die Architektur von Ricardo Bofill sehr dominant. Alle laufen dann in diese Richtung und bauen Bögen und rosa Innenräume. Ich finde das erschreckend. Denn die Mode ist sehr schnell. Vor ein paar Jahren gab es überall Möbel mit Fransen. Heute sind sie weg. Ich will gar nicht wissen, in welcher Lagerhalle all die Möbel herumstehen, die keiner mehr will. Ein anderes Problem sind Renderings.

Inwiefern?
Instagram ist vollgestopft mit Eskapismus-Architektur. Ich kann diese unzähligen Infinitypools nicht mehr sehen. Nichts gegen die Renderings. Sie werden immer toller und fotorealistischer. Das Problem ist Eskapismus. Warum müssen wir vor etwas wegrennen, obwohl wir doch in dieser Welt leben? Nachhaltigkeit wird erst dann im Kopf verankert, wenn die Konsequenzen klar sind. Sind sie es nicht, dann gibt es keine Nachhaltigkeit und auch kein Interesse an der Realität, in der wir leben.

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Hannes Peer Architecture

hannespeer.com

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