Voller Fantasie
Studiobesuch bei Joana Astolfi in Lissabon

Joana Astolfi bewegt sich spielerisch zwischen den Welten. Neben ihrer Arbeit als Interiordesignerin experimentiert sie mit traditionellen Handwerkstechniken, konzipiert Ausstellungen und gestaltet Schaufenster. Wir haben das 50-jährige Multitalent in ihrem Studio in Bairro Alto getroffen – umgeben von Moodboards, Kunstwerken und eigenen Entwürfen.
Joana Astolfi hat einen fulminanten Aufstieg hingelegt, seit sie 2007 in Lissabon ihr eigenes Studio gründete. Gerade erst hat sie einen wichtigen Preis abgeräumt: den National Real Estate Award für das Interiordesign der Quinta da Vacaria im Douro-Tal. Neben Hotels und Restaurants gehören Museen und andere kulturelle Institutionen zu ihren Auftraggebern. Dabei liebt die Portugiesin das Experiment, wie die Ausstellung Tangled Narratives zeigt, die unlängst während der Lisbon Design Week im Friseursalon ihres Lebenspartners stattfand. Dafür beschäftigte sich die studierte Architektin gestalterisch mit dem menschlichen Haar und lud dazu auch andere Kreative ein. Außerdem zählen Unternehmen wie Claus Porto und Hermès zu Astolfis Kunden. Für das französische Luxuslabel gestaltet sie regelmäßig die Schaufenster des Geschäfts in Chiado, dem Lissabonner Einkaufsviertel.
Der typische Astolfi-Mix
Unweit des Hermès-Shops befindet sich in der idyllischen Rua Nova do Loureiro seit einigen Jahren auch Astolfis Studio. In dem überwölbten, atmosphärischen Raum hat sich die Designerin auf einer offenen Empore eingerichtet. Hier arbeitet sie mit ihrem Team an mehreren Projekten gleichzeitig, wobei Architektur und Interiordesign im Fokus stehen. In einer nahegelegenen Werkstatt entstehen Modelle und Prototypen, es wird mit Materialien und Farben experimentiert. Das Interiordesign ihres Studios ist ein typischer Astolfi-Mix und spiegelt gleichzeitig ihren Gestaltungsansatz wider, der Geschichten erzählen und Wohnlichkeit schaffen will. Designmöbel treffen auf Vintage-Stücke, Spielzeuge, Fotografien, Architektur- und Kunstbücher. Dazwischen finden sich einige ihrer künstlerischen Arbeiten wie Zeichnungen und ein Kopfhörer aus Schneckenhäusern (iShells), der fast dadaistisch wirkt.
Es liegt in der Familie
Dass Astolfi so kunst- und architekturinteressiert ist, hat vor allem mit ihrer Familie zu tun. Während ihr brasilianischer Vater als Architekt arbeitete, leitete ihre portugiesische Mutter eine Galerie. Astolfi verbrachte ihre Kindheit im Küstenort Cascais nahe Lissabon – zwischen Architekturmodellen, Vernissagen und Ausstellungsbesuchen. Zuhause gingen Künstler*innen ein und aus, wie sie erzählt.
Ihre Eltern waren es auch, die Astolfi eine weltoffene Ausbildung ermöglichten. Sie besuchte eine internationale Schule und wuchs zweisprachig mit Portugiesisch und Englisch auf. Wenig überraschend also, dass sie ihr Heimatland nach dem Schulabschluss verließ, um zehn Jahre lang die Welt zu erkunden: London, München und Los Angeles waren nur einige ihrer Stationen. Zum Architekturstudium an der Welsh School of Architecture in Cardiff hatte ihr Vater geraten. Er fand, dass die Architektur eine gute Basis sei, selbst wenn sie sich später für Kunst oder Design entscheiden sollte. Er war es auch, der seiner kreativen Tochter ein Praktikum beim Architekten Fred Angerer in München ans Herz legte. „Damit ich Disziplin und Technik lernte, denn an Kreativität und Verrücktheit mangelte es mir nicht“, sagt die Designerin schmunzelnd.
Auf Entdeckungsreise
Als sich Joana Astolfi nach dem Studium auf nach London machte, fand sie bei der Wohnungssuche gleich auch einen Job. Mit gerade einmal 23 Jahren war sie plötzlich für alle Renovierungsprojekte eines Unternehmens verantwortlich. „Ich habe viel gelernt in dieser Zeit, aber auch heimlich geweint im Badezimmer“, gibt sie zu. Danach ging es weiter nach Treviso, wo mit Fabrica eine der wichtigsten Designschmieden für junge Gestalter*innen ansässig ist. Astolfi konnte während des Auswahlprozesses den spanischen Designer Jaime Hayon von sich und ihrer Arbeit überzeugen und blieb zwei Jahre im Veneto. Was sie besonders faszinierte: die Gestaltung einer großen Ausstellung über das Werk des italienischen Bildhauers Antonio Canova im Museo Civico in Bassano del Grappa, an der sie mitarbeitete.
Zurück in Lissabon und einige berufliche Stationen später war es einem Zufall zu verdanken, dass Astolfis Karriere 2014 so richtig Fahrt aufnahm. Sie erfuhr, dass das französische Luxuslabel Hermès einen Wettbewerb für die Schaufenstergestaltung ausgeschrieben hatte. Astolfi bewarb sich und bekam den Job. „Die Schaufenster von Hermès sind zur Visitenkarte meiner Arbeit geworden und haben meiner Karriere einen richtigen Schub gegeben“, erzählt sie. Man kann es verstehen, denn Astolfis Installationen für das französische Unternehmen präsentieren die Luxusprodukte charmant und wie auf einer Bühne. Einmal arbeitete sie mit überdimensionierten Holzkreiseln, die von Hermès-behandschuhten Schaufensterpuppenhänden bespielt wurden. Ein anderes Mal baute sie Miniaturraketen und -planeten und schoss die feinen Porzellanstücke von Hermès auf eine imaginäre Umlaufbahn.
Künstlerische Interventionen
Astolfi arbeitet vor allem in Portugal und mit Fokus auf Hospitality- und Retail-Projekten, die allesamt durch ihre künstlerische Herangehensweise geprägt sind. Für das vom portugiesischen Architekten Eduardo Souto de Moura zu einem luxuriösen Hotel umgebaute Landgut São Lourenço do Barrocal beispielsweise hat sie im Restaurant aus einem hinterleuchteten Regal eine eklektische Kunstinstallation gemacht und durchforstete dafür die Räume des Landguts nach originalen Stücken. „Ich habe drei Wochen vor Ort verbracht und bin auf die Suche nach schönen und interessanten Objekten gegangen“, erzählt die Designerin. Nun erzeugt das Zusammenspiel von historischen Fotos, Jagd-Trophäen, Briefen und landwirtschaftlichen Werkzeugen eine Art 3D-Gemälde, das Geschichten über den Ort erzählt. Astolfi nennt ihre Installation „Erinnerungskabinett“. Sie liebte es schon als Kind, auf Trödelmärkten zu stöbern – und geht dieser Leidenschaft noch heute nach. Und so taucht das Motiv des kuratierten Regals in ihrer Arbeit immer wieder auf. Es ist geradezu zu einem Markenzeichen geworden – sei es in ihrer eigenen Wohnung oder als raumbildendes Element im Restaurant Canto in Lissabon.
Überbordend & spielerisch
Astolfis gestalterische Interventionen sind oft so ungewöhnlich, dass sie Auftraggeber*innen voraussetzen, die einen Sinn haben für ihre überbordende Fantasie. Und für ihre Liebe zum Spielerischen, die sich oft im Detail zeigt, so auch im Shop von Claus Porto in Lissabon. Für das Schaufenster ersann Astolfi einst einen bunten Turm aus den bekannten Seifen des Herstellers, während darüber schwebende Glaskugeln an Seifenblasen erinnern. Ebenso poetisch geht es im Untergeschoss des Ladens zu, wo aus einer aufgesprungenen Wand grüne Flechten herauswachsen. Am kreativen Prozess interessieren Astolfi auch die Fehler, die währenddessen entstehen. So sehr, dass sie darüber sogar einmal eine ganze Ausstellung kuratierte. „Man muss die Fehler feiern“, findet sie. „Sie können zu ganz neuen gestalterischen Ergebnissen führen und neue kreative Türen öffnen.“
Das Handwerk feiern
Die Beschäftigung mit dem portugiesischen Handwerk und seinen traditionellen Herstellungstechniken interessiert Astolfi seit jeher. „Wir haben eine großartige Handwerkstradition, die über viele Generationen zurückreicht und sich über viele verschiedene Bereiche erstreckt“, sagt sie. Damit meint sie beispielsweise die Keramikherstellung, die in Portugal sowohl Gefäße als auch Fliesen umfasst, das Korbflechten sowie das Arbeiten mit einheimischen Materialien wie Kork und Naturstein.
Nicht nur hat Astolfi für den portugiesischen Hersteller Viúva Lamego die Fliesenkollekion Duna mit geometrischen Mustern entworfen. Im letzten Jahr arbeitete sie während einer Residency von Passa ao Futuro an mehreren, aus Palmblättern gefertigten Objekten, die von portugiesischen Handwerker*innen hergestellt wurden – darunter eine halbkreisförmige Umhängetasche sowie ein Zeitungshalter, der an die Wand montiert gleichzeitig auch als dekoratives Element dient. „Seit einigen Jahren explodiert die Kultur- und Designszene in Lissabon geradezu“, stellt Astolfi fest. Ihr gefällt, dass ausländische Gestalter*innen wie Christian Haas, Gabriel Tan und Noé Duchaufour-Lawrance ins Land kommen, da sie neue Impulse setzen und die typisch portugiesische Langsamkeit durchbrechen. „Hier gibt es noch so viel zu entdecken“, sagt Astolfi und man darf davon ausgehen, dass sie ein wichtiger Teil und eine Impulsgeberin dieser portugiesischen Entdeckungsreise sein wird.
Studio Astolfi
www.studioastolfi.ptSão Lourenço do Barrocal
Kunstkonzept von Studio Astolfi für ein Hotel im Alentejo
www.baunetzwissen.deMehr Menschen
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