„Wir wollen einen Kokon schaffen“
studioutte aus Mailand im Interview

Patrizio Gola kommt aus dem Norden, Guglielmo Giagnotti aus dem Süden Italiens. In Mailand haben die beiden Architekten 2020 studioutte gegründet. Ein Gespräch über apulische Romanik, Mailänder Eklektizismus und ihre Pläne für die Milan Design Week.
Ernste Mienen, schwarze Kleidung: Guglielmo Giagnotti und Patrizio Gola von studioutte pflegen einen strengen Auftritt. Im Gespräch erweisen sich die Architekten und Designer aus Mailand als sehr freundlich und zugänglich. Wir trafen sie in Berlin, anlässlich der Eröffnung der Interiorausstellung „Vignettes“ im Tacheles-Komplex. Studioutte ist für einen der drei „Vignettes“-Beiträge verantwortlich. Das Duo hat ein 150 Quadratmeter großes Apartment in einem Wohnungsbau von Herzog & de Meuron bespielt – und dabei den offenen Grundriss zoniert und hierarchisiert. Mit schweren Vorhängen und mit Clustern aus Möbeln, die wie dunkle Inseln auf hellen Holzböden zu schweben scheinen.
Wenn Ihr über Eure Arbeit sprecht, verwendet Ihr lieber den Begriff Einfachheit als Minimalismus. Warum?
Guglielmo Giagnotti: Wir verstehen Minimalismus als einen Stil, als einen bestimmten Trend. Er kann variiert werden, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man ihn betrachtet. Es gibt eine Art warmen Minimalismus. Es gibt diesen typischen Neunzigerjahre-Minimalismus in Schwarz und Weiß. Wir wollen nicht in diese Richtung gehen. Unser Ansatz ist immer etwas Archetypisches.
Gibt es Referenzen, auf die Ihr im Designprozess immer wieder zurückkommt?
Patrizio Gola: Wir sind natürlich sehr mit dem Klassizismus und der Geschichte des italienischen Designs verbunden. Aber auch mit afrikanischen oder asiatischen Kulturen. Das Interessante daran ist, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Die Einfachheit von Formen ist eine gemeinsame Basis zwischen vielen Kulturen auf der Welt.
Wie findet das in Euren Möbeln und Interieurs seinen Ausdruck?
Patrizio: Wir verwenden immer reine Formen, reine Volumina, die die Basis für die Konstruktion bilden. Wir verzichten auf Dekoration.
Guglielmo: Es ist fast schon eine Art semiotisches Design. Die Formen könnte man auch zu Logos reduzieren. Das erinnert an die abstrakte Art japanischer Schrift, aber auch an einen italienischen Radikalismus in der Gestaltung, der nichts mit dem Eklektizismus zu tun hat, den man meistens mit Italien verbindet. Das ist der rote Faden.
Ihr habt beide früher bei prominenten Persönlichkeiten der Branche gearbeitet. Guglielmo, Du warst bei Vincent Van Duysen. Und Du, Patrizio, warst bei Dimore Studio. Was habt Ihr dort gelernt?
Guglielmo: Vincent war für mich wie ein Meister. Ich verdanke ihm alles. Wenn er ein System entwirft, kann er ihm eine gewisse Sensibilität verleihen.
Patrizio: Ich konnte bei Dimore Studio große Projekte bearbeiten, dafür bin ich dankbar. Aber die Ästhetik des Studios, das Eklektizistische, hat mir gezeigt, was ich wirklich bin.
Ihr lebt jetzt beide in Mailand, aber aus welchen italienischen Regionen kommt Ihr ursprünglich?
Patrizio: Das ist interessant, weil wir zwar beide Italiener sind, aber einen sehr unterschiedlichen Hintergrund haben. Ich komme aus den Alpen, aus einer Stadt namens Sondrio an der Schweizer Grenze, während Guglielmo aus Apulien stammt.
Spielen diese Regionen auch in Eurer Arbeit eine Rolle?
Patrizio: Ich persönlich habe mich immer von der traditionellen Architektur der Schweiz und auch meiner Region inspirieren lassen, von der Einfachheit der alten Chalets. Die Innenräume – wie schlicht und eindrucksvoll sie sind!
Guglielmo: Es ist sehr wichtig, womit man aufwächst. Apulien beispielsweise ist eigentlich nicht so bekannt für den romanischen Baustil, dabei ist er sehr präsent. So wie der Barock in Rom präsent ist. Ich bin in einem Ort am Meer aufgewachsen, wo die Kathedrale aus riesigen, massiven Steinblöcken und zwei einfachen Türmen mit wenigen Löchern besteht. Die Architektur sieht aus wie ein Aldo Rossi aus dem Mittelalter. Es gibt diese Präsenz des Steins und der Dicke der Mauern, das Gefühl des Schutzes und der Reinheit eines Orts.
Patrizio: Die Idee des Geschütztseins in der Architektur ist für uns sehr wichtig. Deshalb auch unser Name studioutte, eine Abwandlung des englischen Worts für Hütte: hut.
Um noch einmal auf das Erbe der italienischen Design- und Architekturgeschichte zu kommen: Jetzt, da Ihr in Mailand lebt, lässt es sich kaum ignorieren, oder?
Guglielmo: In Mailand ist es sehr laut, würde ich sagen. Laut in Bezug auf Informationen, Stile, Trends und so weiter. Deshalb ist unser Name auch eine Art zu sagen, dass wir einen kleinen Kokon schaffen wollen. Das kulturelle Erbe, das man in Mailand spürt, ist das Erbe des Eklektizismus, des Maximalismus, etwa der exzessive Gebrauch von Messing und Samt. Es ist das Erbe von Gio Ponti und vielen anderen berühmten Gestaltern. Es gibt einen richtigen Kult darum. Damit können wir uns nicht identifizieren. Patrizio: Aber es gab natürlich auch in Mailand Architekten, in deren Werk wir uns wiederfinden. Ich denke etwa an Giovanni Muzio, ein gutes Beispiel für architektonische Innenräume.
Guglielmo: Der Justizpalast von Marcello Piacentini ist ein sehr schönes Gebäude. Es gibt auch einige beeindruckende Bauten von Giuseppe Terragni.
Wenn man sich die zeitgenössische Szene in Mailand anschaut, gibt es da jemanden, mit dem Ihr Euch verbunden fühlt?
Patrizio: Wir haben immer Giorgio Armani bewundert, den Armani aus der Zeit von Ende der Achtziger- bis in die Neunzigerjahre hinein.
Guglielmo: Die Arbeit von Claudio Silvestrin, dem Architekten für Armani, in den frühen 2000er-Jahren.
Patrizio: Aber wir sind nicht unbedingt Teil einer Design-Community, würde ich sagen. Unsere erste Ausstellung während der Designwoche war unabhängig und nicht an eine Marke oder Plattform gebunden. In diesem Jahr kommt die dritte Ausgabe.
Was habt Ihr vor?
Patrizio: Wir sind vor Kurzem in ein neues Büro umgezogen, das uns genug Platz für einen Arbeitsraum und einen Ausstellungsraum bietet. Dort präsentieren wir neue Möbel. Die Ausstellung heißt Atollo, kleine Insel. Im Zentrum steht ein Tischsystem.
Guglielmo: Eine Art Insel in der Mitte des Raums, sehr definiert und sehr einfach. Und ein paar neue Stücke: ein Hocker und ein Sessel, der eine Weiterentwicklung eines Stuhls ist, den wir bereits letztes Jahr vorgestellt haben.
Welche Trends beobachtet Ihr gerade in Mailand?
Guglielmo: Was das Design betrifft, gibt es eine gewisse Tendenz, diesen Eklektizismus, der Anfang der 2010er-Jahre explodiert ist, ein wenig auszutrocknen. Das finden wir ermutigend! Generell denke ich, dass es eine Menge neuer Positionen gibt, die langsam heranwachsen. Man spürt, dass eine neue Welle kommt. Das ist gut, denn in Mailand gibt es sehr viele bekannte und etablierte Büros.
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