Menschen

Ode an die Emotion

Interview mit dem französischen Designer Benjamin Graindorge

Benjamin Graindorge entwirft Objekte von poetischer Leichtigkeit. Ob schwebende Leuchten, minimalistische Regale oder technische Alltagshelfer: Graindorge sucht nach einer Ästhetik, die Emotionen weckt und über die bloße Funktion hinausgeht. So entstehen Dinge von faszinierender Präsenz, die die Seele berühren. Ein Gespräch über parallele Perspektiven, die Macht der Gefühle und Lehrjahre in Kyoto.

von Norman Kietzmann, 02.12.2024

Ein wichtiges Thema für Sie ist Licht. Bei Ihrer Stehleuchte Apogée für Ligne Roset sitzt der Schirm keineswegs auf dem Fuß auf, sondern scheint über ihm zu schweben. Was ist die Idee dahinter?
Ich versuche jedes Mal, mit meinen Arbeiten Silhouetten zu finden, die skulptural erscheinen und fast schon etwas Magisches erzeugen. Und Licht ist dafür sehr interessant. Auch wenn wir im Grunde genommen wissen, wie es technisch und wissenschaftlich funktioniert, sind wir doch immer wieder ein wenig überrascht, welche Wirkung Licht auf unsere Umgebung ausübt. Diese Idee, die Lichtquelle vom Schirm zu trennen, erzeugt eine Art von Seltsamkeit. Man bekommt den Eindruck, dass sich das ganze Objekt in der Levitation befindet und die Schwerkraft ausgesetzt wird. Der Gedanke, dass etwas sehr Sinnliches und Sensibles aus Stoff schwebend das Licht einfängt, hat einen magischen Moment für mich.


Auch die von Ihnen für Ligne Roset gestaltete Leuchte Astrée erweckt die Illusion, ein Lichtball würde davonfliegen. Warum wollen Sie die Schwere überwinden?
Den Dingen visuelle Leichtigkeit zu geben, ist tatsächlich eine allgemeine Intuition in meiner Arbeit. Bei der Leuchte erscheint es so, als würde man versuchen, eine kleine Sonne einzufangen, einen leuchtenden Ballon. Der Metallring, an dem der Leuchtschirm befestigt ist, wirkt plötzlich wie ein Lasso. Daher war es wichtig, die Geometrie möglichst rein zu halten, sie von überflüssigen Dingen zu befreien. Übertragen auf die Astronomie ist es so, als wollte man den winzig kleinen Teil der Galaxie einschließen.

Interessant ist, dass sich die Form der Leuchte mit dem Blickwinkel ändert. Ihre Physiognomie wird durch die Bewegung bestimmt. Warum?
Natürlich hat jeder Gegenstand einen primären Wert. Und das ist seine Funktion. Dient er zum Schreiben, zum Essen, zum Sitzen? Aber dann gibt es eine zweite Ebene. Das ist die Emotion. Man könnte auch sagen: die Seele. Schließlich betrachten wir die Objekte um uns herum in gewisser Weise als lebende Körper, selbst wenn sie das nicht sind. Es gibt diese erste und zweite Ebene, genau wie eine Vorderansicht, eine Seitenansicht und eine Rückansicht. Im Grunde ist es so, als wenn man ein menschliches Gesicht betrachtet. Der Umstand, dass es nie symmetrisch ist, macht es liebenswert und einzigartig. Ich versuche immer, diese verschiedenen Ebenen und Blickwinkel in meiner Arbeit zu berücksichtigen, um den Objekten Charakter zu verleihen, ihnen eine eigene Identität zu geben.

Worauf kommt es im Zuhause an?
Ich glaube, dass sich die häusliche Umgebung als eine Landschaft beschreiben lässt, die eine Art von Ruhe ausstrahlt. Gleichzeitig muss sie in der Lage sein, uns viel Energie zu geben. All ihre Details sollten in unserer Seele widerhallen. Darum ist es wichtig, dass die Dinge im Raum nicht nur eine Bedeutung haben, sondern viele Arten des Sehens zulassen. Es macht mir sehr viel Freude, die Wahrnehmung zu verändern und neue, unerwartete Erfahrungen zu erzeugen.

Spannend ist auch das Bücherregal Kujoyama, das Sie für Ligne Roset gestaltet haben. Erzählen Sie uns mehr über diesen Entwurf.
Normalerweise sind Regale überaus geradlinige Objekte, die immer ein wenig streng wirken. Strukturell dienen die vertikalen Paneele dazu, die Konstruktion zu halten. Normalerweise würden sie im rechten Winkel auf die horizontalen Ablagen treffen. Hier habe ich die beiden vertikalen Flächen jeweils nach außen geneigt, wodurch eine ganz andere Anmutung, ein ganz anderer Charme entsteht. Für mich geht es dabei um die Idee, Intelligenz im Detail einzubringen. Darin liegt für mich auch der Bezug zu Japan.

Inwiefern?
Ich hatte das Glück, 2010 für acht Monate in Japan leben zu können, da ich ein Stipendium für die Villa Kujoyama in Kyoto bekommen hatte. Das ist eine Residenz für Kulturschaffende und Kreative, die dem Institut français untersteht. Dort habe ich das Know-how der ortsansässigen Schreiner entdeckt. Sie sind daran interessiert, Dinge zu schaffen, die gut halten, die zerlegbar sind. Ihr Sinn für Details ist einfach unglaublich. Darum habe ich dem Regal den Namen Kujoyama gegeben. Als Hommage an den Ort und die Energie, die von dort kommt. Aber auch, weil der Entwurf in dieser Zeit in Kyoto entstanden ist. 2020 – also zehn Jahre später – habe ich ihn wieder aufgenommen, verändert und ihn Michel Roset gezeigt. 2022 haben wir das Möbel dann erstmals in Paris vorgestellt. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit (lacht).

Im Vorfeld dieses Gesprächs schrieben Sie, dass Sie gerade in China waren. War es für eine Recherche? Oder Urlaub?
Nein, nein, das war für die Arbeit. Ich war für eine Firma namens Schneider Electric dort und habe mich mit ihren Ingenieuren getroffen. Das ist ein Industrieunternehmen mit einem deutschen Namen, das aber französisch ist. Sie stellen technische Produkte wie Thermostate her: bescheidene Dinge des Alltags, die kaum wahrgenommen werden, die aber dennoch den Komfort eines Hauses enorm steigern. Wir denken beim Begriff „Design“ vor allem an Möbel. Aber es ist genauso wichtig, die technischen Dinge schöner zu machen, weil sie im Leben vieler Menschen eine Rolle spielen. Ich finde es spannend, Dinge zu gestalten, die in hohen Stückzahlen industriell gefertigt werden und trotzdem eine wirklich gute Qualität haben. Denn das bedeutet, an der Welt teilzuhaben.

Wie würden Sie Schönheit definieren?
Etwas ist dann schön, wenn es ausgewogen ist, wenn es im Gleichgewicht ist. Doch Schönheit bedeutet für mich auch, dass etwas die Seele berührt. Man spürt, es geht über die Funktion hinaus und entspricht dem Bedürfnis nach Emotionen im Leben. Wir brauchen etwas, das wir fühlen können. Und wenn es schön ist, dann berührt es das Herz. Es ist wie ein Parfüm. Einen Duft kann man nur schwer beschreiben – und doch weiß man, ob man ihn angenehm findet oder nicht.

Düfte sind oft mit Assoziationen verbunden.
Genau das macht sie oft verwirrend. Wir können einen Duft erkennen, den wir vor zehn oder zwanzig Jahren gerochen haben. Und plötzlich sind all diese Erinnerungen da, die sehr lange halten, zum Teil ein ganzes Leben lang. Wenn man darüber nachdenkt, bedeutet das eigentlich, dass es nicht die Intelligenz ist, die die Erinnerung hervorruft. Es ist eher unsere Emotion. Das heißt, wir wissen, dass wir etwas schon einmal gefühlt haben. Und ich glaube, dass Schönheit in Gegenständen tatsächlich genau das ist. Bringt dieser Stuhl, diese Pflanze, dieser Tisch – abgesehen davon, effektiv und nützlich zu sein – unsere Emotionen zum Schwingen? Wenn ein Gegenstand Charakter hat, gelingt das. Er vermag in unsere Seele einzudringen und in unserem Gedächtnis zu bleiben. So existiert er über den Moment hinaus.


Zur Person
Benjamin Graindorge wurde 1980 in Frankreich geboren und absolvierte die renommierte Designschule ENSCI in Paris. Nach Stationen in den Büros von Ronan & Erwan Bouroullec sowie Mathieu Lehanneur gründete Benjamin Graindorge sein eigenes Studio in Paris. Seitdem entwickelt er Möbel, Leuchten und Objekte für Unternehmen wie Ligne Roset, Moustache und Pierre Frey, die durch ihre klare Formensprache und emotionale Tiefe überzeugen.

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Ligne Roset

Fertigungsstandorte von Ligne Roset mit ca 800 Mitarbeitern. 95% der Sitz-, Kasten-, Kleinmöbel und Accessoires werden hier gefertigt. Das seit 1860 bestehende Familienunternehmen exportiert in 5. Generation weltweit in 70 Länder und begeistert überall Menschen für hochwertige französische Möbel. Anspruchsvolle und zeitlose Ästhetik prägen die Marke sowie ein hohes Maß an Innovation und Kreativität. Möbel von Ligne Roset werden im gehobenen stationären Handel, in Exklusivgeschäften sowie über einen eigenen Onlineshop vertrieben. Darüber hinaus sind Hotels, Sternerestaurants, Kreuzfahrtschiffe und Luxusboutiquen ein wichtiges Geschäftsfeld.

Zum Showroom

Benjamin Graindorge

www.benjamingraindorge.fr

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