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Bibliotheken sind moderne Kathedralen des Wissens. Spätestens beim Betreten eines Lesesaals stellt sich dieses erhabene, fast sakrale Gefühl ein, etwas außerhalb von Zeit und Raum zu stehen. Und hat man dann seinen Platz und – viel wichtiger – die entsprechende Literatur gefunden, taucht man ein in die transzendente Welt der Bücher. Besonders gut kann man das seit kurzem in Berlin: Mitten im Herzen der ebenso lauten wie lebendigen Bundeshauptstadt öffnet seitdem das unweit des S-Bahnhofs Friedrichstraße gelegene Jakob und Wilhelm Grimm-Zentrum seine Türen für Studenten und andere Wissbegierige. Und diese bleiben lange geöffnet: von morgens um acht bis Mitternacht. Das Thema Offenheit ist überhaupt ein bestimmender Aspekt der Bibliothek der Humboldt-Universität, auch wenn man es ihr von außen nicht ansieht: Sie ist die größte Freihandbücherei Europas, rund zweieinhalb Millionen Bänder sind in Regalen für jedermann zugänglich. Dass man hier dennoch konzentriert arbeiten kann und auch kein Buch abhanden kommt, dafür sorgt die Architektur des Wahlberliners Max Dudler, der mit seinem Team, Andreas Enge und Jochen Soydan, diesen neuen Stadtbaustein gestaltet hat.
Fangen wir also mit dem Städtebau an: Entgegen aller Erwartungen (jedenfalls derer der anderen Wettbewerbsteilnehmer im Jahr 2005) ragt der Neubau über die in Berlin fast schon heilig gehütete Hutschnur – die Traufhöhe von 22 Metern – hinaus. Mit diesem Kunstgriff schaffen die Architekten so gleichzeitig eine städtebauliche Landmarke und einen geschützten Stadtplatz – mitten auf der dicht bebauten Achse zwischen Friedrichstraße und Museumsinsel. Der längliche Platz, der sich parallel zu den S-Bahn-Bögen öffnet, setzt sich im Inneren des Gebäudes als großzügiges Foyer fort. Hier ist auch die Cafeteria untergebracht, sowie alle weiteren eher öffentlichen Funktionen: In großen, holzvertäfelten „Boxen“ können beispielsweise Ausstellungen stattfinden. Zudem befinden sich im Foyer die Zugänge zu den Schließfächern und den Toiletten (dies ist zugleich – neben der eher dürftig umgesetzten Barrierefreiheit – ein häufig geäußerter Kritikpunkt an dem Gebäude: Da die Serviceräume im Untergeschoss liegen, tritt man sich beim Abstieg auf der engen Treppe gegenseitig auf die Füße).
Im Herzen der Zwiebel
Auch um in die Lesebereiche zu gelangen, muss erneut ein Nadelöhr passiert werden: Der Zugang zum Erschließungsflur für die Bibliothek ist mit Wachpersonal und Sicherheitsschranken streng bewacht – kein Wunder, bietet er doch die einzige Kontrollmöglichkeit innerhalb des Hauses. Lediglich der gesicherte Freihandbereich für die besonders wertvollen Bücher, der Forschungslesesaal im sechsten Stock, ist zusätzlich abgeschirmt. Hat man alle Hürden hinter sich gelassen, wird ein weiteres Thema des Bücherbaus offenbar: das Zwiebelprinzip. Im Herzen der Bibliothek befindet sich der große Lesesaal; um ihn herum legen sich schmalere und breitere Ringe für Erschließung, Servicebereiche, Arbeitskabinen und selbstverständlich Bücherregale.
Ein Haus mit Idealmaßen
Wichtigste Entwurfsgrundlage war aber nicht dieser Aufbau, sondern die Orientierung am kleinsten Modul einer Bibliothek: dem Buch. Aus diesem leitet sich die klassische Doppelregal-Größe mit einer Tiefe von 60 Zentimetern ab, der davor liegende Flur muss mindestens 90 Zentimeter breit sein. So ergibt sich das Konstruktionsraster aus einem Wechselspiel von 60 und 90 Zentimetern, an das sich die Architekten auch in der Höhenentwicklung gehalten haben: Selbst die Decke ist „nur“ 60 Zentimeter dick, was bei einer mit allerhand Gebäudetechnik versehenen Decke äußerst schlank ist. Die tragenden Stützen, die je nach Nutzung in Abständen zwischen drei und zwölf Metern stehen, orientieren sich ebenfalls an diesen Maßen. Bis in die monolithisch wirkende Fassade hinein – von außen sieht man keinen einzigen Rahmen, die Fenster erscheinen lediglich als verglaste Öffnungen – wird das Raster durchgehalten; und anhand der unterschiedlichen Fensterbreiten durchdekliniert – vom großzügigen über das schmale Hochformat bis zum schießschartenartigen Schlitz. Der Vorteil dieser strengen Ordnung ist klar: Hier kann sich keiner verlaufen, das Gebäude erschließt sich dem Besucher wie von selbst. Spannungsvolle Raumsequenzen darf man dafür aber ebenso wenig erwarten.
Hängende Gärten
Einen räumlichen Höhepunkt bietet das Grimm-Zentrum jedoch trotzdem: den großen Lesesaal. Dieser ist nicht nur architektonisch aufwändig gestaltet, komplett mit (aus einer einzigen Lieferung stammendem) amerikanischem Kirschbaumholz verkleidet, sondern auch klimatechnisch das Lieblingskind der Nutzer: Der Luftaustausch erfolgt hier weitaus häufiger als in den Freihandbereichen und Fluren. Eine Kostenfrage, ganz klar, die jedoch auf der „Meinungspinnwand“ der Bücherei schon moniert wurde („Es müffelt.“). Der große Lesesaal erstreckt sich nicht nur fast über die gesamte Länge des Gebäudes, sondern auch über seine ganze Höhe. Hier kann man unter der verglasten Kassettendecke in den Himmel schauen, darunter staffeln sich auf großen Terrassen die Leseplätze – von den Architekten in Analogie zu dem babylonischen Weltwunder „hängende Gärten“ genannt. Hier sind 252 von insgesamt über 1.000 Arbeitsplätzen untergebracht.
Arbeiten mit Durchblick
Alle Arbeitsplätze verbindet das identische Mobiliar bestehend aus einem schwarz gebeizten Massivholztisch mit eingelegtem, tannengrünen Linoleum sowie dunklen Freischwingern. Im großen Saal gibt es Doppel- und Dreifachtische, alle Plätze sind jedoch mit eigener Leseleuchte ausgestattet. Diese sind – wie die Tische – ein Eigenentwurf der Architekten: rechteckig und verchromt, dämpft eine dünne Quarzit-Scheibe das Licht aus der Energiesparleuchte. Ursprünglich sollte der Quarzit auch für die schmalen Fensterschlitze eingesetzt werden, was sich jedoch als zu kostspielig erwies. Zusätzlich ist jeder Arbeitsplatz mit dem obligatorischen „Kensington“-Ring ausgestattet, der die Notebooks der Nutzer vor Diebstahl schützt.
Generell gibt es eine ganze Reihe verschiedener Arten von Leseplätzen: Neben denen im großen Lesesaal sind das die in den abschließbaren, für mehrere Monate „mietbaren“ (jedoch kostenlosen) Kabinen mit Blick zum Lesesaal, solche in den Servicezonen und solche am Fenster. Eine Besonderheit der begehrten Fensterplätze ist zudem, dass es hier Konvektorheizungen gibt. Diese dienen allerdings nicht der Erwärmung des Raums, sondern einzig und allein dazu, die Kälteabstrahlung der Fenster auszugleichen. Die Gruppenarbeitsplätze – mit und ohne Betreuung – sowie Computerarbeitsplätze befinden sich in den Untergeschossen und profitieren damit nicht von dem großen Vorteil, der allen übrigen Leseplätzen zu eigen ist: dem freien Durchblick – durch das gesamte Gebäude, durch die „hängenden Gärten“ oder hinaus auf und über die Stadt.
FOTOGRAFIE Stefan Müller, Berlin
Stefan Müller, Berlin