Ein Riegel vorgeschoben
In Montpellier hat Zaha Hadid mit dem Komplex Pierres Vives eine Ikone geplant. Nach zehn Jahren Bauzeit ist das Gebäude nun eröffnet worden. Modern, stimmig komponiert und mächtig, wirkt er doch wie aus einer anderen Zeit. Unser Gastautor Andreas Tölke kommentiert Vergangenheit und Zukunft eines Gebäudes mit beachtlichen Ausmaßen.
Mitten im Nirgendwo hat die ungekrönte Königin der Architektur ein Multifunktionsgebäude abgestellt. Es trägt den Namen Pierre Vives, liegt am Stadtrand von Montpellier und schafft Platz für drei Behörden. Und für 3500 Quadratmeter öffentlichen Lebens. Auditorium, Bücherei, Konferenzräume, Multimediabereiche. Insgesamt 28.500 Quadratmeter Innenleben bietet das Haus; ein Innenleben, das - wenig überraschend bei der Überarchitektin – organisch verwoben ist.
Was überrascht, ist die Fassade. Zwar ist sie eindeutig als eine „Hadid“ lesbar, wirkt aber doch wie eine Reise in die Vergangenheit. Denn das 195 Meter lange Gebäude erscheint als gestalterische Fortsetzung ihres Leipziger BMW-Werks, das 2005 eröffnet wurde. Kaum erstaunlich, sind von der ersten Entwurfsskizze bis zur Übergabe am 13. September doch zehn Jahre vergangen. Das heißt, die Arbeit an dem Komplex in Montpellier begann, als Leipzig auf der Agenda der Londonerin einen Spitzenplatz hatte. Pierre Vives ist also nicht repräsentativ für die aktuell vorherrschende (Fassaden-)Ästhetik von Hadids Büros, zumal im Vergleich mit jüngeren Entwürfen wie dem Operhaus in Guangzhou oder dem Museum MAXXI in Rom.
Ein retrofuturistisches Spektakel
Pierre Vives ist – so beschreibt es die Pritzker-Preisträgerin selbst – aus einem Block entstanden. Einem Block mit fünf Stockwerken und einem seitlich „angeklebten“ Flügel. Was sich recht schlicht anhört, ist dank über tausend vorab gegossenen Betonelementen, 500 Quadratmetern Glasfläche und Aluminiumblenden ein ziemlich retrofuturistisches Spektakel. Die deutsche Firma Reynaers hat dafür die Systemlösungen geliefert. In Kooperation mit Kersten Europe – noch mal Made in Germany – sind über neunhundert Aluminiumprofile so verformt worden, dass bei der Eröffnung gerne von einem „Kunstwerk“ die Rede war. Soweit muss man nicht unbedingt gehen. Auch das oft bemühte Beispiel eines horizontal liegenden Baumstamms erscheint ein wenig gewollt. Eher schon ein Kreuzfahrtschiff – gerade von den schmalen Seiten betrachtet. Überhaupt der Betrachtungswinkel – ein großes Thema. Zaha Hadid plante den Balken in einem Winkel von 45 Grad zur Grundstücksgrenze in die Brache. Der Bauherr entschied anders. Jetzt ist der 46 Meter breite und 24 Meter hohe Dampfer parallel zu einer Schnellstraße gestrandet, ist von dieser Seite schwer(er) zu erreichen und klemmt als Riegel die Sichtachsen der Umgebungsbebauung ab.
Der Masterplan für das zehn Hektar große Areal rund um Pierre Vives am Rande der Stadt, in der bis dato gesichtsloser sozialer Wohnungsbau vorherrscht, sieht eine Aufwertung der Gegend vor. 900 Wohneinheiten für potente Käufer sollen entstehen. Die Stadtoberen wollen aus Montpellier ein Must-see für zeitgenössische Architektur zaubern. Jean Nouvel hat auf der entgegengesetzten Seite der Stadt im November das Rathaus fertiggestellt. Der Bilbao-Effekt wird in Montpellier wieder belebt. Und Zaha Hadid hat ihren Teil dazu beigetragen. Und das (mal wieder) auf höchstem Niveau.
FOTOGRAFIE Iwan Baan
Iwan Baan
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