Kreuz in Caen: Bibliothek von OMA
Rem Koolhaas macht sein Kreuz in Caen: Leselandschaft von OMA am Ärmelkanal

Das Office for Metropolitan Architecture hat eine Leselandschaft am Ärmelkanal realisiert, die keine bloße Hülle für Bücher sein will. Kein Wunder also, dass das Innere dieser Bibliothek mehr zu bieten hat, als ihr Äußeres zunächst vermuten lässt. Rem Koolhaas macht sein Kreuz in Caen.
Auf die Bad News aus Berlin zum Jahresbeginn (Mathias Döpfner überlegt gerade, seinen Axel-Springer-Campus von OMA kurz nach dem Baubeginn besser an einen Investor zu verkaufen) folgt Mitte Januar eine gelungene Eröffnung in der Normandie: Mit der Bibiothèque Alexis de Tocqueville in Caen schließt das Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture mal wieder einen Auftrag für einen kommunalen Bauherren ab. Nach Privatbauten wie dem Neubau für den Immobilienentwickler Alan Faena in Miami, der Fondaco dei Tedeschi in Venedig für die Benetton Group oder dem Mailänder Ensemble für die Fondazione Prada beweist der Kulturbau von Koolhaas und dem niederländischen Kollegen Dirk Peters von BARCODE Architects (Buro For Architecture and Contemporary Design) durchaus Qualitäten für eine neue Landmarke der Metropolregion Caen. Gefeiert wurde die gesamte Eröffnungswoche – mit dabei waren am ersten Abend unter anderen die französische Kulturministerin Audrey Azoulay und natürlich auch: Rem Koolhaas.
Es ist sicherlich eines seiner leiseren Gebäude – eher unauffällig und zurückhaltend, aber dennoch typischer OMA-Entwurf, der seinen Ursprung in einem Diagramm findet. Form und Ausrichtung des Neubaus basieren auf seiner städtebaulichen Situation. Das im Grundriss X-förmige Gebäude auf der Spitze der Halbinsel von Caen besteht aus vier ausgreifenden Flügeln, die jeweils auf eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen. Hier, am Quai François Mitterrand – gleich neben dem Palais de Justice der österreichischen Architekten Baumschlager Eberle – kreuzen sich zwei Sichtachsen. Die historischen Landmarken, das Kloster Abbaye-aux-Dames im Norden, der Hauptbahnhof im Süden, das Kloster Abbaye-des-Hommes im Osten werden mit dem Stadtentwicklungsgebiet im Westen verbunden. Koolhaas war es deshalb besonders wichtig, dass der Raum in der Mitte dieser Kreuzkonfiguration frei bleibt und weder Stützen noch Innenwände den Blick auf die vier Flügel versperren. Eine vom Boden bis zur Decke reichende Glasfassade versorgt das Innere mit Tageslicht; gleichzeitig soll die Bibliothek mit ihrer Durchsichtigkeit laut den Architekten ein „Observatorium des Wissens“ sein.
Atrium, Ruheinseln und Rolltreppen
Eine räumliche Überschneidung der Lesesäle bildet die Basis der 12.500 Quadratmeter großen Bibliothek, um die Vernetzung der vier angesiedelten Fachbereiche Naturwissenschaften und Technik, Literatur und Kunst zu fördern. Die stützenfreien Innenräume erlauben dabei eine variable Bespielung der einzelnen Geschosse. Verbunden werden die drei Etagen mit ihren jeweils unterschiedlichen Raumhöhen durch eine mit Spiegeln verkleidete Rolltreppe. Die mobilen Buchregal-Reihen und -Ovale im ersten Obergeschoss bilden dabei eine stadtähnliche Kulisse, untergliedert von Ruheinseln, die von einer Sitztopographie umgeben sind, während in der zweiten Ebene kleiner gefasste Leseräume und Abteilungen den Grundriss bestimmen. Die Regale im Kellergeschoss hingegen sind wiederum extrem platzsparend als klassisches Depot in starren Reihen angeordnet. Und natürlich gibt es neben Papier auch eine große Sammlung digitaler Medien, die den Besuchern zugänglich ist.
Ein großes Volumen und eine Vorhersehung
Insgesamt knapp 64 Millionen Euro hat der von dem OMA-Partner Chris van Duijn und dem Projektarchitekten Francisco Martinez verantwortete Neubau gekostet. Die Vorhänge stammen von Koolhaas Lebensgefährtin Petra Blaise und ihrem Studio Inside Outside. Namensgeber der Bibliothek ist ein großer französischer Politiker – und ein Visionär: Alexis de Tocqueville hatte nämlich in seinem Buch „De la Démocratie en Amérique“ bereits vor 150 Jahren die Herrschaft der Ökonomie über die Politik vorausgesagt, was sich mit einem Blick nach Washington und den neuen Bewohner im Weißen Haus als erschreckend aktuell erweist.
Doch zurück zur Architektur: Für OMA ist die Bibiothèque Alexis de Tocqueville nicht nur der erste Aufschlag in diesem Jahr, sondern nach der Seattle Central Library der zweite realisierte Bibliotheksbau überhaupt. Und der dritte wird nicht lange auf sich warten lassen. Auch die Nationalbibliothek in Doha, Katar, soll noch in diesem Jahr ihre Türen öffnen.
FOTOGRAFIE Marco Cappelletti, Delfino Sisto Legnani und Philippe Ruault für OMA
Marco Cappelletti, Delfino Sisto Legnani und Philippe Ruault für OMA
Mehr Projekte
Büro in Bewegung
Eine Arbeitslandschaft mit textilen Grenzen von Enorme Studio

Heile Welt
Kinderkrankenhaus in Thailand von Integrated Field

Das luftige Büro
Studio Aisslingers LOQI Activity Office in Berlin

Das Studio im Stall
Erweiterung des mo.office in Meerbusch

Im Universum des Rudolf S.
Schulumbau am Bodensee von Lukas Imhof Architektur

Atmosphärische Arbeitswelten
2000-2020: Best-of Büros

Das Prototyp-Büro
Die neuen Räume des Bureau Borsche in München

Londoner Arbeitslaube
Minibüro von Boano Prišmontas

Kreative Raumreise
Cineastisch inspirierter Co-Working-Space von Masquespacio

Arbeiten im Schneckenhaus
Studio 11 gestaltete ein Start-up-Büro in Minsk

Im Office-Dschungel
Weiss-heiten gestaltet The-Office-Group-Dependance in Berlin

Eine Bühne für den Austausch
Flexibler Multifunktionsraum von Delordinaire in Paris

Geometrie und Abenteuer
Indoor-Spielplatz in Brooklyn von Architensions

New Work in New York
Umbau eines Industriedenkmals von CIVILIVN

Arbeiten auf dem Sonnendeck
Büroräume einer Berliner Agentur von Gustav Düsing

Berliner Holz-Beton-Hybrid
Lichtdurchflutete Remise von Jan Wiese Architekten

Geschichte im Farbbad
Umbau eines Prachtbaus in Amsterdam von i29 und MATH architecten

Das Büro als Spielwiese
Inspirierende Arbeitswelt von Studio Aisslinger

Stiller Brutalismus
Headquarter der Lichtmanufaktur PSLab von JamesPlumb in London

Das Büro als Boudoir
Agenturräume in London von Daytrip

Spielerisches Experimentierfeld
Variabler Co-Working-Space von LXSY Architekten in Berlin

New Work als Raumkonzept
Transparentes Office von Ply Atelier in Hamburg

Bunter Brutalismus
Büroausbau von Artem Trigubchak und Lera Brumina

Funktionale Grenzgänger
Der Co-Working-Space von brandherm + krumrey in Berlin setzt auf Gemütlichkeit

Büro zum Wohnen
Die Räume des Architekturbüros SJB in Sydney gleichen einer Wohnung

Abgetaucht
Coworking in Warschau von Beza Project

Gemeinsam lernen
Sarit Shani Hay entwirft die erste öffentliche Integrationsschule in Tel Aviv

Arbeiten im Aggregatzustand
Waterfrom bringt Industriegeschichte in Zylinderform

Helden des Homeoffice
Coperni und USM zeigen eine Ausstellung über die Heimarbeit

Meister der Zeit
Die Geschäftsräume der Uhrenmanufaktur Montres Valgine, umgesetzt von Girsberger
