Unter dem Mond Spaniens
Die surreal-industrielle Welt des Reisinger-Studios
Wie lässt sich die surreale Stimmung der Werke eines Digitalkünstlers auf seine realen Arbeitsräume übertragen? Der spanische Designer Isern Serra hat das Studio seines Freundes Andrés Reisinger in Barcelona neu geplant und jedes Funktionselement wie eine Skulptur behandelt. Im Viertel Poblenou treffen jetzt ein glänzender Küchenmonolith, eine stählerne Wendeltreppe und ein surrealer Mond auf Rosa im Raum und Tropengrün vor dem Fenster.
Andrés Reisinger arbeitet zumeist im Digitalen. Der Künstler und Designer aus Barcelona hat eine bemerkenswerte Karriere rund ums Metaverse hingelegt: Er verkauft NFTs, gestaltet virtuelle Welten, geht mit beidem viral und weiß dabei die sozialen Netzwerke für sich zu nutzen. Gelegentlich landen seine Entwürfe nach dem virtuellen Start auch im echten Leben. So geschehen mit seinem Stuhl Hortensia oder der Installation Take Over, bei der pinke Vorhänge oder fluffige Fellpuschel an Gebäudefassaden drapiert wurden – bis sie sich real auf der Kunstmesse Design Miami 2023 manifestierte (und wieder als Foto auf Instagram landete). Sein Arbeitsplatz ist anders als sein Arbeitsfeld allerdings nach wie vor ein physischer Ort und wächst parallel zu seinem Erfolg in Bezug auf Besetzung und Raumbedarf.
Unter Freunden
Die Studio-Räume liegen im Erdgeschoss eines Gebäudes, das in den 1980er-Jahren von einer industriellen in eine kreative Nutzung überführt wurde. Reisinger hat sich dort schon länger eingerichtet und zuletzt eine umfangreiche Umgestaltung vorgenommen. Geplant wurde die funktionale Revision jedoch nicht von ihm allein, sondern federführend vom Interiordesigner Isern Serra. Dessen Büro liegt nicht nur in unmittelbarer Nachbarschaft, die beiden Designer feiern auch regelmäßig gemeinsam Weihnachten. „Wir sind seit Jahren eng befreundet, daher ist die Zusammenarbeit mit ihm sehr einfach. Ich gestalte gerne für und mit Freunden, denn dann kann ich Szenarien erschaffen, die meiner Vorstellung von ihnen entsprechen“, sagt Serra. Im Fall von Reisinger fühlte er eine warme, ruhige Energie und zielte darauf ab, aus den von Sichtbeton dominierten Räumen mehr ein Zuhause als ein Büro zu machen.
Industriearchitektur im Kreativviertel
Das Büro geht über zwei Ebenen und befindet sich im kreativen Epizentrum der spanischen Küstenstadt, im Viertel Poblenou. Vor den Fenstern liegt auf einer Seite die Straße, rückwärtig schließt sich eine große Terrasse an, die von einem üppigen, fast dschungelartigen Grün eingerahmt wird. Die Atmosphäre der Räume ist konsequent industriell, mit Wänden, Stützen und Decken aus rohem Beton, einem Boden aus mausgrauem Estrich und dicken Abluftrohren aus Aluminium. Die Architektur ist geradezu hyperreal und passt genau deshalb so gut zu Reisinger. Sie wirkt wie der neutrale, aus grauen und weißen Pixeln bestehende Hintergrund eines Grafikprogramms, kurz bevor Farbe und Geometrien darauf phantastische Welten entstehen lassen.
Öffnung nach oben
Das wichtigste Element des Umbaus ist die Öffnung der niedrigen Räume. Im hinteren Bereich des Studios wurde die zweite Etage entfernt, um nahe den Fenstern zum Hof Weite entstehen zu lassen. Dann sollte Farbe einziehen. Weil Rosa die Signature-Nuance von Reisinger ist und in vielen Arbeiten die Hauptrolle übernimmt, setzt diese Farbe auch im Studio Akzente. Allerdings auf eine sehr dezente Weise. Der große Betontresen, der eine doppelte Funktion als Kücheninsel und Arbeitstisch übernimmt, wurde in einem zarten Rosaton eingefärbt. Vor Ort gegossen schmiegt er sich um die verwitterten Betonstützen und findet ein paar farbliche Komplizen im Raum, wie den von Reisinger entworfenen Hortensia-Sessel an der Fensterfront. Zuletzt wurden funktionale Ergänzungen platziert: Die Treppe zu den Büros im ersten Stock, Regale, eine Küchenzeile und Lichtobjekte.
Der Raum als Leinwand, das Objekt als Skulptur
„Wir haben den Kontrast zwischen dem rohen Raum und sehr zarten und raffinierten Elementen gesucht, die wie Skulpturen behandelt wurden“, erzählt Isern Serra. Eine besondere Herausforderung war die Treppe, die eigens für das Studio entwickelt werden musste. „Anfangs habe ich mir eine Spindeltreppe aus Beton vorgestellt, aber am Ende mussten wir diese Option aus gewichtstechnischen Gründen streichen und nach vielen Versuchen – Rosa, Weiß, Holz – kamen wir auf die Idee, sie aus satiniertem, poliertem Edelstahl zu machen. Fein, elegant, raffiniert, so wie Andrés’ Arbeiten. Die Fertigung war eine Herausforderung, weil sie in einer Werkstatt in einem Stück hergestellt und dann als Ganzes transportiert werden musste.“
Surreale Reminiszenzen
Passend zur Treppe wurde die Küche gestaltet, die mit Rückwänden, Arbeitsplatte, Fronten, Regalen und Armaturen aus Edelstahl wie aus einem Guss wirkt. Die gebogenen Wangen nehmen ihr die Strenge und die homogenen Flächen machen sie zu einer Skulptur, die ausgezeichnet zu den glänzenden Metallhockern des Tresens passt. Letztere sind eine handwerkliche Sonderanfertigung von Júlia Esqué, der Designerin, die auch den Stuhl Hortensia für Reisinger realitätsfähig gemacht hat. Wichtig ist in den sparsam möblierten Flächen auch das Licht, das dort ebenso eine skulpturale Aufgabe übernimmt wie Tisch, Küche und Treppe. Die Leuchte Moon von Davide Groppi hat einen Durchmesser von 120 Zentimetern und schwebt im freigewordenen Luftraum an der Terrassenseite. Mit ihrer Textur aus zerknittertem Papier verwandelt sie nachts die Atmosphäre des Ateliers konsequent: Dann entsteht eine surreale und traumhafte Stimmung, die nicht zufällig an die Szenarien in Reisingers Werken erinnert.
FOTOGRAFIE Salva Lopez Salva Lopez