Stories

Der Alleinunterhalter und andere Gestalter

von Jasmin Jouhar, 10.03.2009


Dieses Buch legt sich quer: „Desire. The Shape of Things to Come“ zeigt auf 280 Seiten eine Überfülle an zeitgenössischem Design – und ignoriert dabei gängige Kategorisierungsmuster. Zusammengeschusterte Prototypen von Jungdesignern stehen gleichberechtigt neben kommerziell vertriebenen Produkten von Designstars, neben hochglänzenden Editionsobjekten und konzeptuell-verspieltem Kunstdesign. Auf sachdienliche Angaben wie Hersteller, Herkunftsland oder Produktionsjahr wird gerne mal verzichtet. Dank dieses leicht schrägen Blickwinkels ist die englischsprachige Bestandsaufnahme aktuellen Produkt- und Möbeldesigns aus dem Berliner „Gestalten Verlag“ eine große bunte Wundertüte zum Durchblättern, Kopfschütteln und Amüsieren geworden.


Ganz ungebremst konnte das vielköpfige Herausgeberteam um Robert Klanten und Sven Ehmann den Design-Wildwuchs in „Desire“ aber doch nicht wuchern lassen und versuchte, ihn in vier verschiedenen Kapiteln zu zähmen. Die Titel lassen sich von den verschiedenen Entwurfsstrategien der Gestalter ableiten, deren Produkte vorgestellt werden: „The Modernists“, „The Inventors“, „The Taletellers“ und „The Entertainers“. Hier wird Design eindeutig von der Figur des Designers her definiert, und nicht etwa vom Material, vom Entstehungsort, von der Funktion oder was sonst noch möglich wäre. Manche Designer finden sich mit ihren Objekten gleich in mehreren Kapiteln wieder, entpuppen sich also als multiple Gestalterpersönlichkeiten, die offenbar in verschiedenen Welten denken können.

Mythos follows Form

Der Designexperte und Geschäftsführer des Rat für Formgebung, Andrej Kupetz, hat die Aufgabe übernommen, diese vier Welten zu erklären: In kurzen Einleitungstexten zu jedem Kapitel beschreibt er anhand von eher prominenten Beispielen, wie die verschiedenen Strategien funktionieren. Die Modernisten etwa (Jasper Morrison , die Brüder Bouroullec, Barber Osgerby oder Autoban) sind für ihn Formalisten, die sich stets aufs Neue an der Moderne abarbeiten. Sie übertragen den modernistischen Kanon auch auf neue Produkttypologien, wie im Falle von Jonathan Ives Entwürfen für Apple, die eine gewisse Nähe zu Dieter Rams’ funktionalistischer Formensprache nicht leugnen können. Die Geschichtenerzähler wiederum (Hella Jongerius, Tord Boontje, Doshi Levien oder die Brüder Campana) versteht Kupetz als Antagonisten der Modernisten: Sie versuchen, ihre Möbel und Gebrauchsgegenstände mit Emotionen und Assoziationen aufzuladen, mit Geschichte(n) und Mythen. Qualitäten, die in der industrialisierten Formgebung der Moderne keinen Platz gehabt hätten. Wen wundert es, dass in diesem Kapitel viele Objekte aus Holz und anderen, scheinbar natürlichen Materialien auftauchen.

Experiment als Stil

Beim Durchblättern der vielen bunten Seiten mit bekannten und weniger bekannten Projekten beweisen die vier Kategorien durchaus Plausibilität. Die Erfinder experimentieren mit Materialien, Techniken oder Funktionen, was wenigstens zum Teil zu originellen Ergebnissen führt, etwa bei Stephen Burks Pappmaché-Tischen, Oskar Zietas Aufblasmöbeln aus Metall oder Adrien Roveros Holzschnitzelhockern. Andere Beispiele bedienen sich allerdings lediglich einer futuristisch anmutenden, innovativ gemeinten Formensprache, bei der das Experimentelle zum Stil erstarrt. Im Kapitel der Entertainer wiederum geht es erwartungsgemäß humorvoll und manchmal auch glamourös zu: Jaime Hayon, Maarten Baas oder Studio Job sind hier die Anführer. Zum Einsatz kommen häufig hochglänzende, wertvoll erscheinende Materialien und schwarzer Kunststoff.

Mythos trifft Form

Doch spätestens bei den Alleinunterhaltern unter den Gestaltern zeigt die vermeintliche Plausibilität der Kategorien gewisse Schwächen: So sind beispielsweise die Entertainer meist auch Geschichtenerzähler: Der Witz vieler ihrer Produkte entsteht durch formale oder inhaltlich Assoziationen. Und auch ihre Designsprache ist dezidiert postindustriell. Die Modernisten wiederum haben es die ganze Zeit mit Mythen zu tun – ihr Referenzraum, die Geschichte der modernen Gestaltung, ist voll davon. Etwa der Mythos der „Guten Form“ für alle, der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Modernisten: Der schwingt in einem Stuhl wie Jasper Morrisons „Basel Chair“ von 2008 immer noch mit.
Doch wir wollen nicht zu streng sein mit einem Buch, das vor allem eine interessante und aktuelle Sammlung zeitgenössischen Designs sein will. Die Herausgeber haben es zweifellos geschafft, eine frische Mischung zusammenzutragen, die zeigt, was heutzutage alles Produktdesign sein kann. Und wem die vielen bunten Bilder allein noch nicht reichen, dem seien die drei Texte von Andrej Kupetz am Anfang des Buches ans Herz gelegt („About Desire“, „Designing Desire“ und „The Economy of Desire“).

Begehren statt Bedürfnis

Darin gelingt ihm eine zwar knappe, aber profunde Standortbestimmung gegenwärtiger Produktgestaltung, die sich aus der Vernunftehe mit den industriellen Produktionsprozessen längst verabschiedet hat. So bestimmten laut Kupetz Material oder Herstellungsweise nicht mehr zwingend die Form eines Gegenstands; vielmehr wählten die Designer die industriellen Verfahren aus, je nachdem, was für eine Gestalt oder für einen „Look“ sie erzielen wollen. Die Grundbedürfnisse der Menschen sind übererfüllt – worauf Design heute abziele, so Andrej Kupetz, seien emotionale Werte wie Individualität, Distinktion oder Schönheit. An die Stelle des Bedürfnisses als Motor der Produktgestaltung ist das titelgebende „Desire“, zu deutsch Begehren getreten. Und Begehrlichkeiten, die wecken die in dem Buch vorgestellten Produkte allemal.

„Desire. The Shape of Things to Come“
hrsg. v. Robert Klanten und Sven Ehmann
Gestalten Berlin 2008, 280 Seiten, 44 Euro.
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Verlag

Gestalten

www.gestalten.com

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