Der Pilz-Visionär
Ausstellung über Angelo Mangiarotti in der Mailänder Triennale

Angelo Mangiarotti schuf sich seine eigene Welt. Der Mailänder Architekt, Designer und Bildhauer hat eine organische Formensprache entwickelt, mit der er spielend zwischen Maßstäben und Typologien changierte. Die Mailänder Triennale würdigt sein Werk bis zum 23. April mit der Ausstellung Angelo Mangiarotti. When Structures Take Shape.
Zwei Jahre nachdem der Architekt, Designer und Bildhauer Angelo Mangiarotti hundert Jahre alt geworden wäre, widmet ihm die Mailänder Triennale – die in diesem Jahr selbst ihr 100-jähriges Jubiläum feiert – die erste umfassende Retrospektive in ihren Räumen: Angelo Mangiarotti. When Structures Take Shape. „Komplex, schwer einzuordnen und unorthodox“, so beschreibt Triennale-Präsident Stefano Boeri die Arbeiten des italienischen Architekten. Es ist richtig, dass er Mangiarotti in eine Reihe stellt mit anderen Größen des italienischen Designs wie Carlo Mollino, Enzo Mari und Vico Magistretti. Doch es trifft die Sache nicht ganz. Denn in vielen Punkten ist der 2012 verstorbene Gestalter seinen eigenen Weg gegangen.
Logik der Schwerkraft
Angelo Mangiarotti hat sich in seiner sechs Dekaden umspannenden Karriere ein eigenes Formen-Alphabet erarbeitet. Kegel, Pilze, Zylinder und freie Kurven tauchten immer wieder auf: in unterschiedlichen Größen und Funktionen, teilweise als ganze Bauwerke, in konstruktiven Details oder in den Konturen von Möbeln, Leuchten, Uhren, Vasen oder Waschbecken. So skulptural und sinnlich diese Formen auch anmuten mögen: Mangiarotti legte ihnen ein konstruktives Prinzip zugrunde.
Gebäudeteile wie Träger und Stützen ließen sich ohne Verbindungselemente allein durch die Wirkung der Schwerkraft miteinander verbinden, wie beim Lagergebäude für die Splügen-Brauerei in Mestre (1961-1964). Dasselbe gilt im Möbeldesign für die Marmor-Tische Eros (1971) und Incas (1978, beide neu editiert von Agapecasa), bei denen die Platten mühelos auf konischen Füßen aufsitzen. Und selbst die Glashaken der Serie Giogali (1967), die sich zu Vorhängen, Raumteilern oder Leuchtenschirmen (in Kooperation mit dem Hersteller Vistosi) addieren lassen, finden allein durch die Wirkung der Gravitation sicheren Halt.
Öffnen der Archive
Die von Fulvio Irace kuratierte Ausstellung „denkt“ in den Formen, nicht in Typologien. Es sind viele Zeichnungen zu sehen, die nicht nur der finalen Präsentation gegenüber Kund*innen dienten, sondern vor allem der Ideenfindung. Das Prozesshafte wird hier ebenso deutlich wie das präzise Herausarbeiten von Details. Auch zahlreiche Modelle und Fotos sind zu sehen, viele davon zum ersten Mal. Hierbei hat die Triennale sowohl mit der Fondazione Angelo Mangiarotti als auch mit dem Mailänder Polytechnikum zusammengearbeitet, die beide umfangreiche Werksammlungen betreuen.
Wandernde Formen
Fulvio Irace erzählte während der Pressekonferenz Ende Januar von einem früheren Besuch in Mangiarottis Studio. „Während es bei den meisten heutigen Architekten Usus geworden ist, die Schreibtische an jedem Feierabend aufzuräumen und stets in einer klinisch sauberen, ablenkungsfreien Umgebung zu arbeiten, glich sein Studio einer Wunderkammer aus tausenden Dingen. Architekturmodelle, Funktionsmodelle, Skulpturen, Skizzen. Jeder Platz war gefüllt“, so der Mailänder Kurator. Es erklärt, warum die Formen für Mangiarotti nicht spezifisch, sondern universell waren. Sie wanderten von Projekt zu Projekt, von Typologie zu Typologie. Sie entwickelten in gewisser Weise ein Eigenleben.
Spezifische Displays
Die Ausstellung übernimmt diese Idee durch ihre räumliche Präsentation, die Studio Ottavio Di Blasi & Partners in Kooperation mit Renzo Piano konzipiert haben. Die bauliche Umsetzung erfolgte durch den Hersteller UniFor. Zunächst passieren die Besucher*innen einen Gang, wo Skizzen, Fotos und Dokumente an Wänden aus Lindenholz präsentiert werden. Im Anschluss geht es weiter in einen großen Raum, der von drei frei stehenden Displays bestimmt wird, die wie Mixturen aus Tischen, Regalen und Vitrinen anmuten. Unter Glas geschützt werden Skizzen liegend gezeigt, während ein umlaufender Rahmen das Beleuchtungssystem aufnimmt. Auf erhöhten Mittelinseln sind Modelle und Prototypen zu sehen. Verspiegelte Deckenpaneele schweben über den Displays und verstärken die Wirkung der Exponate durch überraschende Blickwinkel.
Vom Wohnhaus zum Industriebau
Das größte Display misst zwölf Meter in der Länge und 3,2 Meter in der Breite. Hier werden vor allem – aber nicht nur – die architektonischen Projekte unter die Lupe genommen, unabhängig von Nutzung oder Entstehungsdatum. Das Wohnhaus in der Via Quadronno 24 in Mailand (1956-1961) verfügt über Fassaden aus vorfabrizierten Elementen, die sich austauschen ließen (auch wenn es nie passiert ist). Hier ziehen die Ausstellungsmacher einen Bogen zu den vielen Industriebauten Mangiarottis, bei denen ebenfalls vorfabrizierte Bauteile zum Einsatz kamen, wie beim Bürogebäude für den Küchenhersteller Snaidero bei Udine (1971-1978) oder der UniFor-Fabrik in Turate (1974).
Gewölbe für die Massen
Ganz anders das Wohnhaus in der Via Gavirate 27 in Mailand (1956-1961), das auf drei tonnenartigen Baukörpern ruht, die von zylindrischen Sockeln über das ausgesparte Erdgeschoss angehoben werden. Das bürgerliche Zuhause wurde hier mit schwebender Leichtigkeit neu interpretiert. Die Trommelform findet Jahre später sogar unterirdisch Verwendung, wenngleich in waagerechter Drehung: Als Fußgängertunnel für die S-Bahnhöfe Porta Venezia und Repubblica in Mailand (1983-1996) mit eindrucksvollen Tonnengewölben.
Der Architekt als Zuhörer
Leichtigkeit und Eleganz bestimmen die „fliegenden“ Dächer für die Mailänder Vorort-Bahnhöfe Certosa und Rogoredo (1982-1988) sowie Rho Fiera (2008 fertiggestellt) – eine Typologie des Transports, der sich Mangiarotti in seinem Spätwerk verstärkt gewidmet hat. Worin die Herausforderung beim Planen lag, beschrieb er in einem Essay einmal so: „Das Neue entsteht jedes Mal aus der Interpretation von sozialen und ethischen Überlegungen bis hin zu den Zwängen, die sich aus den Eigenschaften der verwendeten Materialien und Techniken ergeben. Metaphorisch gesprochen ist die Figur, die die Entwurfstätigkeit des Architekten am besten darstellt, nicht die des Erfinders, sondern die des geduldigen Zuhörers.“
Angelo Mangiarotti. When Structures Take Shape
noch bis zum 23. April in der Mailänder Triennale
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