Vertikale Wälder
Der Mailänder Architekt Stefano Boeri im Gespräch
Stefano Boeri hat mit dem Bosco Verticale in Mailand eine neue Typologie begründet: ein doppelter Apartmentturm, dessen Fassaden von tausenden Bäumen, Sträuchern und anderen Gewächsen bevölkert werden, um Platz für die Natur in hochverdichteten Innenstadtlagen zu schaffen. Das Konzept wird nun weltweit adaptiert. Ein Gespräch über vielstimmiges Vogelgezwitscher, changierende Farbwelten und florale Impfstationen.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Wald in die Vertikale zu stapeln?
Ich war schon als Kind von Bäumen besessen. Bäume sind Individuen. Sie besitzen Intelligenz. Sie sind sensibel. Ich habe mehrere Male in meiner Karriere versucht, lebendige Natur und Architektur zusammenzubringen. 2007 wurde ich schließlich gebeten, für Mailand zwei Hochhäuser zu entwerfen. Also habe ich vorgeschlagen, die Fassaden zu begrünen. Die Projektentwickler waren sehr mutig, diese Idee zu akzeptieren. Natürlich gab es ein paar Punkte, die wir klären mussten. Wie verhält es sich mit der Bewässerung, dem Wind, was macht die Höhe? Wir haben drei Monate damit zugebracht, diese Themen zu untersuchen und Antworten zu finden. Dann kamen wir zurück und sie meinten: O.k., lasst uns beginnen!
Was bewirkt die grüne Gebäudehülle?
Ein großer Vorteil ist, dass die Pflanzen das Sonnenlicht filtern. Dadurch verringert sich die Aufheizung der Fassaden und Innenräume. Viele Bewohner schalten selbst im Sommer die Klimaanlagen nicht ein. Ein anderer Beitrag sind die Absorbierung von Kohlendioxid und die Produktion von Sauerstoff. Auch können die Pflanzen Feinstaub aus der Luft filtern, was gerade in einer smogreichen Stadt wie Mailand einen wichtigen Beitrag darstellt. Einen anderen Effekt haben wir erst später bemerkt: Sehr viele Vögel bauen an diesen beiden Türmen ihre Nester. Wir haben mit Ornithologen darüber gesprochen. Und sie meinten, dass es sehr selten ist, im Zentrum einer Großstadt eine derartige Zahl an unterschiedlichen Vogelarten zu sehen.
Welchen Effekt hat ein begrüntes Gebäude auf die Stadt?
Wenn man ein Hochhaus entwirft, spielt es keine Rolle, ob es ein privates oder öffentliches Projekt ist. Es ist immer eine öffentliche Architektur, weil es so exponiert inmitten des Stadtraums steht und von Millionen Menschen gesehen wird. Die Türme sind eine Art Manifest. Sie sprechen von der realen Möglichkeit, lebende Natur und Architektur miteinander zu verbinden. Entscheidend ist, dass die Natur nicht als dekoratives Element betrachtet wird, sondern als ein Bestandteil der Architektur selbst.
Wie gehen Sie beim Bepflanzen vor?
Wir beginnen erst mit der Fassadengestaltung, wenn die Auswahl der Pflanzen steht. Im Falle des Bosco Verticale hat das die Botanikerin Laura Gatti übernommen. Sie hat nur Arten verwendet, die in der Region beheimatet und für die dortigen Klimaverhältnisse geeignet sind. Wir betrachten die Pflanzen als Bewohner des Hauses. Das bedeutet, dass die leeren Flächen zwischen den Balkonen und Terrassen so geplant sind, den Lebensraum der jeweiligen Baum- und Pflanzenart zu respektieren. An den Nordfassaden haben wir uns entschieden, Bäume zu verwenden, die ihre Blätter verlieren. Denn wir wollten, dass das Sonnenlicht im Winter besser ins Innere eindringt. Es ist spannend, den Wandel der Jahreszeiten auf diese Weise erlebbar zu machen. Im Frühling beginnen die Türme zu blühen, im Herbst verfärben sie sich. Sie sind ständig in Veränderung. Die Dimension des Zeitlichen ist eine Stärke dieser Architektur.
Was haben Sie von dem ersten Bosco Verticale gelernt? Sie planen ja derzeit zwanzig weitere Türme, darunter in Eindhoven, Paris, Nanjing und Tirana.
Wir haben uns vorgenommen, die Gebäude für jeden finanzierbar zu machen. Beim ersten Bosco Verticale lagen die Kosten zunächst bei 6.500 bis 10.000 Euro pro Quadratmeter, was absolut im Mittelwert für Baukosten im Zentrum einer Stadt wie Mailand liegt. Doch dann wurde alles sehr viel teurer. Darum haben wir intensiv daran gearbeitet, die Kosten bei den neuen Projekten zu senken und Wohnraum bezahlbarer zu machen. Das ist uns auch gelungen, durch den Einsatz von vorfabrizierten Bauteilen. Wir eröffnen jetzt in den Niederlanden und in China drei Türme im sozialen Wohnungsbau. Darüber sind wir sehr glücklich. Für zwei weitere Projekte in Paris und Mailand verwenden wir einen Betonkern mit einer Holzstruktur. Auch das ist ein wichtiger Schritt nach vorne, weil wir zusätzlich den CO2-Abdruck der Gebäude senken können.
Sie planen nicht nur weitere Türme, sondern auch ganze Städte. Inwieweit spielt die Liaison aus Natur und Architektur hier eine Rolle?
Es gibt zwei Arten, urbane Wälder zu realisieren. Wenn wir über existierende Städte reden, die grüner werden müssen, dann dreht sich alles um das Anpflanzen von Bäumen. Als Ersatz für Parkplätze, an den Straßenrändern. Oder wir stapeln sie in die Höhe wie beim Bosco Verticale. Die andere Richtung zeigt sich an Orten auf dieser Welt, wo wir noch neue Städte bauen müssen. In diesem Falle haben wir begonnen, Waldstädte zu entwerfen. Zuerst in China und dann wurden wir gebeten, das gleiche in Mexiko zu machen.
Mit der Smart Forest City in Cancun in Yukatan.
Genau, es ist ein Projekt sehr nah am Meer. Wir arbeiten hier mit dem deutschen Büro Transsolar zusammen. Sie haben nach einer Möglichkeit gesucht, das Meerwasser zu entsalzen. Das ist wichtig, denn wir werden an diesem Ort etwa sieben Millionen Pflanzen setzen. Die Stadt ist für 120.000 bis 130.000 Menschen ausgelegt. Transsolar hat einen Puffer um die Stadt entworfen mit Solarpaneelen, die den Großteil der Energie liefern. Es gibt Gewächshäuser für den Anbau von Gemüse, die sich ebenfalls um die Stadt gruppieren. Im Inneren der Stadt verlaufen Wasserkanäle und überall wachsen Pflanzen und Bäume. Das Projekt ist schon weit fortgeschritten und wird in den nächsten Jahren realisiert.
Inwieweit wird sich der Städtebau in Europa verändern?
Durch Covid-19 wird sich wahrscheinlich das beschleunigen, was bereits vorher passiert ist. Ich denke, dass wir uns wegbewegen werden von Städten, in denen sich alles nur auf ein Zentrum konzentriert. Ich glaube, dass die Stadt ein Archipel von kleineren Vierteln werden muss. Eine Sammlung von Dörfern, in denen man alles finden kann, was man braucht: Geschäfte, Schulen, Kultur, Gesundheit. Die Menschen brauchen dann nicht mehr ständig hin und her zu fahren, wodurch sich die Menge der Autos reduziert. Der Alltag wird wieder fußtauglich. Die Verbindung zwischen diesen urbanen Dörfern wird über grüne Zonen erfolgen. Ich denke, das ist die richtige Richtung. Aber natürlich passiert das nicht von heute auf morgen, sondern Schritt für Schritt.
Wie verhält es sich mit dem Verhältnis von Stadt und Land? Werden sie stärker verschmelzen, weil die Menschen nun im Homeoffice arbeiten können und sich damit nicht mehr durch den Berufsverkehr quälen müssen?
Es liegt natürlich ein Risiko darin, dass die Städte weiter ausfransen. In den Achtzigern und Neunzigern wurden in Europa unglaublich viele Einfamilienhäuser ohne Respekt gegenüber der Umwelt gebaut. Ich denke, dass dies nicht die richtige Lösung ist. Wir müssen vielmehr unsere Städte effizienter machen und die Bedingungen für Wohlbefinden verbessern. Auf der anderen Seite gibt es eine hohe Zahl an leer stehenden, historischen Dörfern weiter draußen auf dem Land. Sie sind das Erbe unserer Kultur. Und sie sind da. Das heißt, wir brauchen keinen weiteren Boden besetzen. Die erste Idee besteht darin, unsere Städte in Archipele von Dörfern zu verwandeln. Die zweite Idee sieht vor, die alten Dörfer wieder so zu beleben, genau wie sie in der Vergangenheit agiert haben. Das ist meine Vision.
Ein weiteres Projekt von Ihnen sind die Covid-19-Impfstationen, die in den kommenden Monaten in Italien entstehen sollen. Sie haben sowohl die Architektur als auch das Logo in Form einer Primel entworfen. Was hat es damit auf sich?
Die Primel ist ein Zeichen von Heiterkeit, weil sie nach einem langen, dunklen Winter als erste wieder blüht. Die Pavillons werden komplett aus Holz vorfabriziert. Auch für die Interieurs haben wir eine modulare Struktur entworfen. Die Idee ist, sie nach der Pandemie abzubauen und einzulagern. So dienen sie in den verschiedenen Landesteilen als Reserve für zukünftige Notfälle. Wie viele Pavillons gebaut werden, können wir nicht genau sagen. Wahrscheinlich mehrere Hundert. An Orten, wo es genügend leere Hallen und andere Räume gibt, brauchen wir keine neuen Pavillons aufzustellen. In Städten und Gemeinden, wo keine freien Räume zur Verfügung stehen, werden die Pavillons sicher extrem nützlich sein. Wir gehen davon aus, dass der erste Pavillon Mitte März in Florenz eröffnet wird.