Stockholm Furniture Fair 2020
Die Neuheiten von der Möbelmesse
Das skandinavische Design huldigt längst nicht nur seinen verdienten Helden. Es lässt auch mit Pop und Ironie getränkte Infusionen zu, die zu neuer Energie beflügeln. Wir waren auf der Stockholmer Möbelmesse und ihrer begleitenden Design Week unterwegs.
Alles Hygge im Norden? Von wegen: Als Orientierungspunkt dient längst nicht nur das ewig lockende Midcentury-Gestirn. Auch die Gefilde der Postmoderne werden als Leuchtkörper am skandinavischen Designhimmel erkannt. Wild ging es diesmal in den Räumen der Galerie Sebastian Schildt zu, wo die schwedische Künstlerin Aia Jüdes die Kollektion The Return of the Burls präsentierte. Die Arbeiten basieren auf Maserknollen – jenen knubbligen Gebilden, die an den Rinden von Baumstämmen wuchern und vom Kunsthandwerker Erling Tällberg sorgsam ausgehöhlt wurden. Anschließend transformierte Jüdes die archaisch anmutenden Holzgewächse in schrille Leuchten, deren konische oder würfelförmige Metallsockel mit changierenden Farbverläufen aufwarten, die jedes Autotuner-Herz höher schlagen lassen. Klarer lässt sich die Absage an die einlullenden Nude-Töne der letzten Jahre wohl kaum formulieren.
Gepuderte Vasen & monumentale Geometrie
Die Vertiefung der Oberfläche vollzieht auch das Stockholmer Möbellabel Hem mit den Powder Vases von Jenny Nordberg. Die stählernen Objekte werden zunächst von Hand gefaltet und verschweißt. Anschließend werden sie pulverbeschichtet – nicht auf gleichmäßige, ebene Weise, sondern mit einer lebendigen, unregelmäßigen Textur, die Assoziationen an Mineralien erweckt. Moooi erweiterte die Kollektion Monster Family von Marcel Wanders um einen passenden Tisch und einen Teppich im Comic-Design. Einen Bruch mit den Sehgewohnheiten vollzog das Stockholmer Designertrio Claesson Koivisto Rune mit der Leuchte w201 von Wästberg in einer extrakleinen Ausführung, die auf halbem Wege zwischen Puppenstube und realer Wirklichkeit gastiert.
Vogelaugenahorn und Rosenholz
Das Möbellabel Fogia, sonst in erdigen oder naturgebleichten Farben unterwegs, setzt plötzlich auf leuchtendes Rot und Blau. In diesen Tönen war auch der Sessel Hood von TAF Studio zu sehen, dessen Polsterung den Eindruck erweckt, als sei eine überdimensionale Duschhaube über ein Metallgestell gestülpt worden. Das Duo GamFratesi hat die Säulen griechischer Tempel zum Vorbild erkoren und daraus die Tischserie Epic für Gubi entwickelt, bei der runde Platten auf sechseckigen Sockeln ruhen, die allesamt aus Travertin in unterschiedlichen Farben gearbeitet sind. Auch der schwedische Hersteller Asplund entfernte sich von seinen Midcentury-Wurzeln. Die Designerinnen Anya Sebton und Eva Lilja Löwenhielm unternahmen einen Ausflug ins Monumentale mit der Schrankserie Tokyo 4: Kubische Monolithen, deren Oberflächen mit Furnieren aus Walnuss, Vogelaugenahorn und brasilianischem Rosenholz bezogen sind.
Vom Segelschiff ins Wohnzimmer
Ronan und Erwan Bouroullec spielten ebenfalls mit Referenzen an die Zeit der breiten Schulterpolster. Ihr Rope Chair für Artek lässt auf den ersten Blick an jene Möbel denken, die Maurizio Peregalli Mitte der Achtzigerjahre für Zeus entworfen hatte und feine, grafische Konturen mit skulpturaler Geste verbanden. Doch die Ähnlichkeit verblasst, wenn man den Stuhl ausprobiert. Die Armlehnen und Rückenlehnen sind aus dicken Kordeln gefertigt, wie sie auf Segelschiffen Verwendung finden. „Die Kordeln sind beweglich, sodass sie sich dem Körper anpassen. Auch bleiben sie in Position, sodass zwei Stühle nebeneinander nie gleich aussehen, sondern immer leicht variieren“, erklärt Ronan Bouroullec den Entwurf. Das Möbel ist nicht nur als Serienmodell konzipiert, sondern wird in einer Sonderfarbe im neuen François-Pinault-Museum in Paris – der von Tadao Ando umgebauten Bourse du Commerce – verwendet, die am 13. Juni 2020 eröffnen wird.
Neues aus den Archiven
Reeditionen gehören weiterhin dazu, wobei der Fokus auf die Jahrhundert-Mitte durchaus einige Schlenker in die jüngere Vergangenheit zulässt. Carl Hansen & Søn legte Børge Mogensens Bettcouch BM0865 und Tischbank BM0488 von 1958 neu auf. Ebenfalls von Børge Mogensen stammt der 1970 entworfene Canvas Chair, den der dänische Hersteller Fredericia zu neuem Leben erweckte. Gleich sechs Entwürfe des Kopenhagener Architektenduos Peter Hvidt und Orla Mølgaard-Nielsen sind von &Tradition in Produktion genommen worden, darunter der elegante Lounge-Sessel Boomerang sowie der Holzstuhl Drawn, beide aus dem Jahr 1956. Bei Offecct sind die 1969 von Verner Panton gestalteten Schallschluck-Deckenverkleidungen aus dem Hamburger Spiegel-Verlagsgebäude wieder zu haben. Und Lammhults reeditierte den postmodernen Schrank Ono, den Love Arbén 1991 als schwarz-weiß gestreiften Holzkorpus mit markantem Wellenschlag entwarf.
Lockruf der Natur
Ein unverzichtbares Accessoire sind Pflanzenschalen im XXL-Format, die idealerweise in Gruppen von mindestens drei Exemplaren präsentiert werden. Die aus Zement gefertigten Highlands Planters von Bolia warten mit Sockeln auf, deren feine Rillen an plissierte Röcke oder Fransen erinnern. Aus faserverstärktem Beton sind die runden Gefäße aus der Serie Planter gefertigt, die Space Copenhagen für &Tradition entworfen haben. Einen Schulterschluss zur Architektur vollzieht die Botanic Collection von Design House Stockholm. Der Entwurf von Atelier 2+ aus Thailand basiert auf flachen, tablettartigen Gefäßen aus schwarzem Metall, die als Metaebene auf dem Fußboden platziert werden. „Unsere Lieblingsblumen sind Orchideen. Doch warum die Tabletts nicht mit Bonsai-Bäumen, Farnen oder Moos bestücken? Ein Kaktus wäre ebenso schön, genau wie frische Gemüsekeimlinge“, erklärt Designerin Ada Chirakranont.
Veränderte Distribution
Auf der Stockholmer Insel Skeppsholmen liegt das Spielzeugmuseum. Es ist in einem Labyrinth aus unterirdischen Gängen untergebracht, in denen das schwedische Militär einst eine geheime Kommandozentrale einrichten wollte – die jedoch nie eröffnet wurde. In dieser ungewöhnlichen Umgebung hat das schwedische Designbüro Form Us With Love das Unternehmen Forgo vorgestellt. Dabei geht es um eine neue Form der Herstellung und Auslieferung von Seife. „Flüssige Pflegeprodukte bestehen zum Großteil aus Wasser, eine Zutat, die jeder bei sich zuhause hat. Warum sie also in Plastikflaschen um die Welt verschiffen, wenn es eine bessere Lösung gibt?“, fragt John Lofgren, Kreativdirektor von Form Us With Love.
Die Kunden von Forgo sollen künftig im Monatsabo kleine Tüten mit zwölf Gramm Pulver per Post zugeschickt bekommen, die sie daheim in Wasser auflösen und 250 Milliliter Flüssigseife erzeugen. Als Behältnis dient ein Gefäß aus stabilem Glas, das immer wieder neu aufgefüllt werden kann, um Abfälle zu vermeiden. Bereits im Februar soll das Unternehmen starten. Ergo: Im hohen Norden wird nicht nur geredet. Es folgen auch Taten.