Weichzeichner-Wunderland
Magisch-mattweiß: Mario Dossi und die gesammelte abendländische Kunstgeschichte in der Fumagalli & Dossi.

Die Gipsoteca Fumagalli & Dossi in Mailand ist ein magischer Ort. Seit 1928 werden hier Figuren, Büsten und Reliefs aus Gips gefertigt, die ihren marmornen Vorlagen nicht nur verblüffend ähnlich sehen. Sie sind bis ins Detail identisch mit ihnen.
Die Eingangstür der Gipsoteca Fumagalli & Dossi entführt in eine andere Welt. Was in Museen fein säuberlich auf einzelnen Sockeln in Szene gesetzt wird, steht hier auf engstem Raum dicht beieinander: Meisterwerke der griechischen und römischen Antike bevölkern Regale und Wände ebenso wie Skulpturen der Renaissance, des Barock und des 19. Jahrhunderts. Man fühlt sich wie in einem auf 200 Quadratmeter komprimierten Depot der abendländischen Kunstgeschichte – mit dem Unterschied, dass die meisten Werke schon für wenige hundert Euro erhältlich sind.
Davids linkes Auge
Das Spektrum dieses Wunderlands reicht von Köpfen, Büsten und Statuen über Reliefs, Masken und anatomische Studien bis hin zu Fragmenten. So ist nicht nur der mächtige Kopf von Michelangelos David in Originalgröße vertreten. Auch seine Nase sowie das linke und rechte Auge werden einzeln angeboten – und damit in deutlich handlicheren Dimensionen als der rund einen Meter hohe Kopf. Anders als ihre Vorlagen werden die originalgetreuen Figuren nicht aus Stein gehauen, sondern in Gips gegossen.
Mailänder Institution
Die Seele der Werkstatt ist Mario Dossi. Trocken liegt der Gipsstaub in der Luft, als der Meister durch sein Reich führt. Kurz zuvor hatte er aufgekehrt und dabei einen feinen Nebel aufgewirbelt, der sich wie ein Weichzeichner über den gesamten Raum gelegt hat. Auf einer großen Marmorplatte steht sein Werk für diesen Tag: Der Kopf der Athena Lemnia von Phidias (450-440 v.Chr.) und ein Selbstbildnis von Antonio Canova aus dem Jahr 1827. „Berühren Sie sie nur. Sie sind noch ganz warm", sagt der Meister. Auch wenn die mattweißen Oberflächen mit der Zeit einen marmornen Schimmer annehmen, behalten sie ihre Wärme – anders als der stets kalte Stein. Der Charme liegt für ihn genau darin: Gips ist ein menschliches, feines und ein Stück weit auch geheimnisvolles Material.
Seit über vierzig Jahren ist Mario Dossi jeden Wochentag von mattweißer Schönheit umgeben. Bevor er die Werkstatt 1974 gemeinsam mit seinem Schwager Augostino Fumagalli übernahm, hatte sie in den Händen der Meister Cesare Gariboldi und Cesare Bertolazzi gelegen. Diese wiederum hatten in der berühmten Gipsoteca von Antonio Vallardi gelernt und bei deren Schließung im Jahr 1927 mehr als 400 Formen übernommen. Viele von ihnen datieren noch aus dem 19. Jahrhundert – was für die heutige Gipsoteca ein Glücksfall ist. Schließlich wurden die Gießformen den berühmten Originalen abgenommen – ein Vorgang, den heute kein Museum mehr gestatten würde. Die Gipsfiguren sehen ihren marmornen Vorlagen daher nicht nur verblüffend ähnlich. Sie sind bis ins kleinste Detail identisch mit ihnen.
Sensibler Vertrieb
Zu den Kunden von Fumagalli & Dossi zählen Museen und Hochschulen ebenso wie Architekten, Inneneinrichter und Privatkunden. Das Geschäft mit dem Gips ist eine besondere Nische. Seit 1990 war die Gipsoteca die einzige in Mailand. Heute gehört sie zu den beiden letzt verbliebenen in Italien. Während die Nachfrage von Privatkunden eher verhalten ausfällt, mehrt sich das Interesse von Hotels, Geschäften und Institutionen. Für ein Museum in China hat Marco Dossi jüngst knapp 200 Arbeiten geliefert. Zuvor hatte eine Delegation verschiedene Gipsotheken in Europa besucht und sich schließlich für ihn entschieden – den Herrn über die hochpräzisen Formen.
Fantasie beim Zoll
Für zusätzlichen Auftrieb sorgt ein Onlinekatalog, der Fumagalli & Dossi Anfragen aus aller Welt beschert. Eine Herausforderung ist allerdings der Zoll. „Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht ‚Kopf von Michelangelos David' auf den Lieferschein schreiben. Das ist uns schon einmal passiert. Die amerikanischen Zollbehörden sind fast verrückt geworden“, erzählt der Meister kopfschüttelnd. Und so werden die zerbrechlichen Preziosen als schnöde Gipsfiguren in die Welt verschickt. Eine schöne Untertreibung für die Tätigkeit einer Bottega, die tagtäglich 3000 Jahre Kulturgeschichte lässig aus dem Ärmel schüttelt.
Orient und Okzident
Nach all den Jahrzehnten sind die Figuren für Mario Dossi wie eine Familie geworden. „Wenn ich allein in der Werkstatt bin, dann spreche ich manchmal mit ihnen. Und wenn ich am Abend das Licht ausschalte, ist es jedes mal ein kleiner Abschied", sagt er. Auch wenn die Herausforderung bei ganzen Figuren größer ist, weil diese aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt werden: Wie jeder gute Vater hat er kein Lieblingskind – zumindest keines, das er in ihrer Gegenwart erwähnen würde. Und so schließen sich die Türen dieses magischen Ortes, während einen der Abend hinausträgt in das quirlige Treiben der Mailänder Chinatown.
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Gipsoteca Fumagalli & Dossi
www.fumagallidossi.comSeltene Erden
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