Wohnratgeber 15: Neue Steinzeit
Weg vom flüchtigen Zeitgeist und ab in die Ewigkeit
Marmor ist zu einem verlässlichen Begleiter im Alltag geworden, der keineswegs nur auf Tischoberflächen Bella Figura macht. Massive Regale, Sessel und Badewannen werden ebenso aus dem kostbaren Stein gefertigt wie dünnwandige Leuchtschirme. Mit einer Haltbarkeit von mehreren tausend Jahren werden die zeitlichen Parameter verschoben: Vom Hier und Jetzt in die Unendlichkeit.
Jede Krise hat auch etwas Gutes: Wir stellen Gewohnheiten in Frage und verlegen den Fokus verstärkt aufs Essentielle. Dass Marmormöbel seit der 2008er Bankenimplosion rasant an Bedeutung gewinnen, ist freilich nicht primär der Sparsamkeit geschuldet. Die hochpreisigen wie schwergewichtigen Objekte sind vor allem eines: die Hinwendung zur Ewigkeit, um sich vom flüchtigen Zeitgeist zu emanzipieren.
Zeitliches Korrektiv
Auch dies ist kein Zufall: In einer zunehmend digitalisieren Welt wächst die Sehnsucht nach dem Echten, Handfesten und physisch Greifbaren, das dem Entmaterialisierten entgegentritt. Die Rückbesinnung auf den Baustoff der Antike wirkt wie ein Korrektiv für die Unzulänglichkeiten der Gegenwart: Mit einer Lebensdauer von tausenden Jahren werden Marmorobjekte nicht nur jedes Holz-, Metall- oder Kunststoffprodukt spielend überdauern, sondern ebenso fast alle heutigen Architekturen. Sie sind dem zeitlichen Verfall schlichtweg enthoben.
Exzentrische Gewichte
Natürlich ist Marmor im Wohnen kein Neuling, sondern hat als Bodenbelag, Wandfliese und Tischoberfläche im mediterranen Raum auch in den vergangenen Jahrhunderten seine Stellung bewahrt. Doch die gegenwärtige Faszination des Materials geht mit einer materiellen Aufrüstung einher, die durchaus als exzentrisch gelten darf. Der Grund: Selbst massive, tonnenschwere Objekte werden heute aus Marmor konstruiert, wofür eigens die Statik von Gebäuden verstärkt werden muss oder ganze Häuser um die marmornen Preziosen herum errichtet werden.
Gedrehte Argumentation
Ein Vorreiter war an dieser Stelle Claudio Silvestrin. Für einen Hausumbau in der Provence entwarf der Londoner Architekt 1992 eine Badewanne aus massivem Kalkstein, die später unter dem Namen I Fiume von Boffi in Produktion genommen wurde. „Ungewöhnlich war nicht nur ihre Materialität, sondern ebenso ihre ovale halbkugelige Form. So radikal dieser Entwurf damals war, ist er heute beinahe zu einem Standard geworden“, erklärt Claudio Silvestrin. Auch wenn diese Wanne nicht aus Marmor gefertigt war: Sie hat mit ihrer Massivität und Größe die bislang geltenden Vernunftschranken außer Kraft gesetzt und einer Vielzahl an Möbeln und Objekten den Weg geebnet, die in den vergangenen Jahren den Weg die heimischen vier Wände erobert haben. Gewicht war plötzlich kein Argument dagegen, sondern dafür.
Noch neunzig Prozent
„Wissen Sie, wie alt Marmor ist? Hundertzwanzig Millionen Jahre! Es ist ein wunderbares Material und niemand sollte sich schuldig fühlen, es zu benutzen“, war James Irvine überzeugt. Der Mailänder Designer hat für den Marmorhersteller Marsotto 2009 die Möbelkollektion Edizioni initiiert, bei der er den antiken Stein für ganze Sessel, Regale oder Konferenztische verwendete und diese von befreundeten Designern entwerfen ließ oder selbst zum Zeichenstift griff. „Wir haben seit der Antike erst zehn Prozent der Marmorbestände in Carrara abgebaut. In den Bergen liegen noch 70 Kubikkilometer Gestein. Bevor wir alles aufgebraucht haben, erleben wir wahrscheinlich eine neue Eiszeit“, verriet uns der 2013 verstorbene Designer in einem früheren Interview. Die Edizioni-Kollektion wird auch weiterhin um neue Arbeiten ergänzt, die mittlerweile fast den gesamten Haushalt mit steinernen Objekten bespielbar machen.
Farbliche Auffächerung
Irvines Intuition war richtig: Marmor blieb keine Eintagsfliege im Möbeldesign, sondern ist bis heute allgegenwärtig. Die enorme Bandbreite und Vielseitigkeit der Arbeiten sorgt dafür, dass die Sinnlichkeit des Materials in all ihren Nuancen und Feinheiten erfahrbar wird. Interessanterweise sind die jungen Gestalter ebenso vom Marmor begeistert wie die alten Hasen. Zum Einsatz kommt längst nicht nur der weiße Statuario-Marmor aus Carrara, mit dem schon Michelangelo seine Skulpturen schuf. Neben dem grauschwarzen Marquina-Marmor aus Spanien rücken ebenso grüne, rote und gelbe Marmorsorten in den Fokus, die zudem auch noch mit stark ausgeprägten Maserungen aufwarten. Die neue Steinzeit ist damit gerade erst angebrochen.
Eine Auswahl an Möbeln und Objekten aus Marmor finden Sie in unserer Bildergalerie…