Genese eines obskuren Raums
Buch über die Kulturgeschichte des Berliner Zimmers
Das Berliner Zimmer ist ein Begriff, der seit Generationen fest im Sprachgebrauch von Berliner*innen und Fachkreisen verankert ist. Eine monothematische Abhandlung, die sich ausschließlich dieser Eigenheit der Berliner Wohnungsbaugeschichte widmet, gibt es erst seit 2022: Mit Das Berliner Zimmer – Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung rückt Jan Herres ein Stück Berliner Baukultur ins Rampenlicht und zeigt, dass das „Berliner Zimmer“ weit mehr ist als nur ein dunkler Durchgangsraum. Mit beeindruckender Präzision und einem tiefen Gespür für die kulturellen, sozialen und architektonischen Dimensionen dieses Raums erschließt Herres ein Thema, das bisher in der Forschung wenig Beachtung fand.
Reich an Quellen und Archivmaterial erzählt Herres die Geschichte dieses einzigartigen Mietshaus-Raumtypus an der Schnittstelle von Vorderhaus und Seitenflügel. In sechs Kapiteln spannt er einen Bogen von den Anfängen und der Entwicklung des Berliner Zimmers im 18. und 19. Jahrhundert über seine Verbannung aus Grundrissen des „Neuen Bauens“ im frühen 20. Jahrhundert bis hin zur faszinierenden Wiederentdeckung im Zuge der IBA Berlin 1987. Sein unerwartetes Comeback feierte der Raum in hochpreisigen Neubauwohnungen der 2010er-Jahre. Das Buch ist spannend, informativ und visuell beeindruckend. Hier geht es nicht nur um Architektur, sondern auch um die Geschichten, die ein Raum erzählt. Das Berliner Zimmer, oft als Herausforderung bei der Einrichtung beschrieben, entpuppt sich in Herres' Darstellung als Ort voller Potenzial. Sein Charme liegt gerade in seiner Offenheit und der Möglichkeit, den Raum immer wieder neu zu erfinden.
Ein besonderes Highlight des Buchs sind die Abschnitte zur aktuellen Nutzung. Auf rund 50 Seiten widmet sich Herres den Aneignungen des Berliner Zimmers durch heutige Bewohner*innen. Mit vielen Farbfotografien und detaillierten Grundrisszeichnungen gewährt er spannende Einblicke in Privaträume, die von kreativer Vielfalt zeugen. Diese Kapitel machen das Buch zu einer Momentaufnahme zeitgenössischer Wohnkultur. Herres gelingt es, komplexe historische und gesellschaftliche Zusammenhänge so zu erzählen, dass sowohl Fachleute als auch Lai*innen angesprochen werden. Mit einer gelungenen Mischung aus fundierter Analyse und erzählerischer Leichtigkeit wirft das Buch nicht nur ein neues Licht auf das Berliner Zimmer, sondern zeigt auch dessen Potenzial für die Zukunft auf. sr
Jan Herres:
Das Berliner Zimmer
Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung
Jovis Verlag, 2022