Transparente Realität
Filigrane Drahtarchitekturen von Edoardo Tresoldi
Der italienische Künstler, Bildhauer und Bühnenbildner Edoardo Tresoldi bezeichnet sich selbst als „Künstler der fehlenden Materie“. Er arbeitet mit filigranen Drahtgeflechten und der Transparenz, die sich zwischen den feinen Strängen bildet, wenn er sie zu einem architektonischen Gebilde zusammenfügt.
2020 erschuf Tresoldi in Reggio Calabria die dauerhafte Installation Opera: 46 Säulen aus Drahtgeflecht mit einer Höhe von acht Metern stehen in einem 2.500 Quadratmeter großen Park. Besucher*innen wird ein außergewöhnliches Erlebnis von Architektur und Umgebung sowie Realität und Vorstellungskraft geboten. Die Drahtstrukturen bilden zwar eindeutige Formen, die Bauelemente darstellen, aber gleichzeitig scheinen sie durch die Transparenz mit der umliegenden Natur zu verschmelzen. Der Himmel, die Sonne, die Vegetation sind stets sichtbar, obwohl sich die Betrachter*innen innerhalb eines architektonischen Gefüges befinden. Untermalt wird das Erlebnis von den Anhöhen und kleinen Tälern, die der Boden im Park bildet, und den Bäumen, die die Säulen durch eine ähnliche Form ergänzen, sich aber gleichzeitig durch ihre Bewegung und Begrünung von den starren Drahtobjekten abheben. Opera wurde im Rahmen einer Veranstaltung eröffnet, die Konzerte und Performances beinhaltete. Die Installation soll als Sehenswürdigkeit und Wahrzeichen in Reggio Calabria erhalten bleiben.
Konzerte und Kunst stehen auch beim Coachella Festival in Kalifornien im Mittelpunkt. Im Jahr 2018 gestaltete Edoardo Tresoldi dort die Installation Etherea, die von neoklassizistischer sowie barocker Architektur inspiriert wurde. Die drei Skulpturen waren zehn, sechzehn und einundzwanzig Meter hoch und wurden Kathedralen mit Kuppeln nachempfunden. Durch das teils transparente Drahtgeflecht schienen sie wie nicht von dieser Welt. Dieses Attribut ist unter anderem eine Definition des englischen Begriffs „ethereal“. Das Gebilde aus Draht konnte von den Festivalgänger*innen an beiden Wochenenden des Events besucht werden und wurde danach abgebaut. Hier stand die Vergänglichkeit im Vordergrund. Zum einen, da es sich um eine temporäre Form von Architektur handelte, zum anderen, weil Etherea aus physischen Elementen bestand, die sich aufzulösen schienen und den Blick auf die Umgebung und den meist sonnigen Himmel Kaliforniens freigaben.
Die Drahtskulpturen von Tresoldi sind in unterschiedlichen Formen und Kontexten bereits in Italien, Frankreich, den USA, England, Spanien und China ausgestellt worden. Stets stand dabei die visuelle Verbindung zur Außenwelt im Mittelpunkt. Die Objekte werden zu einem Teil der Umgebung und des jeweiligen Ortes, aber nehmen diese auch in sich auf: Der Wind, das Sonnenlicht, die Besucher*innen sind immer ein Teil der Kunstwerke. Im italienischen Borgo Valsugana wird das besonders deutlich. Dort hat Tresoldi mit Simbiosi eine steinerne Ruine mit seinem Markenzeichen, dem Drahtgeflecht, erweitert und eine unkonventionelle Rekonstruktion vorgenommen, die fragil und dennoch vollendet wirkt und den Anstoß gibt, herkömmliche Bauweisen zu hinterfragen.
Mit seinen zahlreichen temporären Installationen schafft Tresoldi eine weitere Ebene, und zwar die der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Die transparenten Strukturen lösen sich auf. Was bleibt, ist die Erinnerung an den Moment des Besuchs, der eine kurzzeitige Verschmelzung von Realität, Architektur und Natur war.