Menschen

Es gibt keine Regeln

Interview mit dem Berliner Architekten Sam Chermayeff

Sam Chermayeff holt die Moderne in die Gegenwart. Der gebürtige New Yorker (*1981) begann seine Karriere im Büro von SANAA in Tokio und gründete 2010 mit Johanna Meyer-Grohbrügge das Architekturbüro June14 in Berlin. Parallel entwickelt er unter seinem eigenen Namen Designentwürfe. Ein Gespräch über offene Küchen, Stimmann-Blöcke und väterliche Überfiguren.

von Norman Kietzmann, 09.12.2022

In der Berliner Kurfürstenstraße haben Sie das Baugruppenhaus Kufu realisiert mit zwanzig Wohnungen, einem Atelier und drei Gewerbeflächen. Erklären Sie uns, was es mit dem Entwurf auf sich hat.
Das Haus besteht aus sechs Türmen, die sich gegenseitig überschneiden. Die beiden äußeren sind parallel zu den Fluchten der Straßenkreuzung gesetzt, die übrigen vier Türme sind leicht verdreht. Jede Wohneinheit ist einzigartig. Sie sind T-förmig geschnitten und überlappen sich gegenseitig. Jeweils ein Raum verfügt über eine doppelte Deckenhöhe und öffnet sich sowohl zur Straße als auch zum Innenhof. Nur die Badezimmer sind abgetrennt. Ansonsten gibt es keine Innenwände. Das ist großartig. Es funktioniert auch ohne Wände.

Alles verdichtet sich in einem Raum?
Nicht ganz. Wir haben verschiedene Zonen in den Wohnungen geschaffen, die untereinander nicht einsehbar sind. Kazuyo Sejima würde sagen, sie sind „softly divided“. Der Raum bewegt sich um Ecken herum oder vollzieht Höhensprünge. Ein wenig wie im Moriyama House oder im Rolex Learning Center von SANAA. Auch dieses Gebäude folgt derselben Logik. Die einzelnen Etagen werden von runden Trägern angehoben. Die Fassaden sind verglast. Man könnte die eingezogenen Wände wieder herausnehmen und die Wohnungen miteinander verbinden. Das Haus ist ein System, bei dem die horizontalen Elemente, sprich die Böden, fix sind. Die vertikalen Elemente sind veränderlich.

Inwieweit verbindet sich das Gebäude mit seiner Umgebung?
Wir wollten die gegebenen Konditionen auf smarte Weise nutzen. Nach Norden haben wir die Kurfürstenstraße mit Neonlicht und Straßenstrich. Nach Süden orientiert sich das Haus zum Hof mit einem ruhigen Garten. Auch mussten wir uns an die Vorgabe von Hans Stimmann halten, den Block des 19. Jahrhunderts wieder zu schließen. Doch natürlich wollen wir damit spielen. Wie können wir diesen Block vielleicht doch aufbrechen? Wie schaffen wir mehr Beziehungen zwischen Hof und Straße, zwischen drinnen und draußen? Und vor allem: Wie können wir das Gebäude weniger burgartig erscheinen lassen?

Wie haben Sie das gelöst?
Durch ein Fenster im Erdgeschoss ist der Hof von außen einsehbar. Er verlängert sich somit optisch zur Straße. Die Wohnungen sind bodentief verglast, sodass sich die Innenräume wie Outdoor-Bereiche anfühlen. Im Grunde braucht man gar keine Terrasse. Wenn man die Fenster auf beiden Seiten öffnet, fühlt es sich so an, als wäre man draußen. Drinnen ist draußen und umgekehrt. Die Raumgrenzen sind nicht geschlossen. Bei den neuen Häusern auf der anderen Straßenseite (Projekt Schœnegarten von Tchoban Voss, Anm. der Red.) ist es genau das Gegenteil: Drinnen ist meins und draußen ist deins. Bei unserem Gebäude ist es ein wenig unklar, wo die eigene Wohnung aufhört und die des Nachbarn oder der Stadtraum anfängt.

Sie selbst wohnen in dem Haus und haben Ihre eigenen Möbel entworfen. Unter dem Namen Beasts wurden sie 2022 von der Side Gallery in Barcelona in einer kleiner Auflage produziert. Woher kam der Anstoß zum Design?
Ein Gebäude zu bauen, dauert einfach zu lange. Und ich kann nicht endlos warten. Wie viele junge Architekten haben wir mit Interieurs begonnen. Und wir haben schnell erkannt, dass die Antwort auf die meisten Innenraumprobleme darin liegt, bessere Möbel zu entwerfen. Das zählt viel mehr als die Frage, welche Farbe eine Wand hat. Die Möbel folgen der Sprache der Moderne. Ich mag Mies van der Rohe wie jeder andere Architekt Anfang Vierzig. Aber ich möchte umgekehrt auch nicht, dass das Haus eine Maschine ist.

Die Küche ist bei Ihnen weder eine Insel noch ein Block an der Wand, sondern eine Gruppe von freistehenden, beweglichen Objekten. Worum geht es hierbei?
Ich finde es seltsam, dass der Küchenblock als Antwort auf die Frankfurter Küche gesehen wird, die man leider immer noch häufig sieht. Sie ist wie ein Gefängnis. Keiner will sie mehr. Das Problem ist nur: Sie ist zu einem Standard geworden, den niemand mehr hinterfragt. Die Leute merken überhaupt nicht, wie viele Stunden sie beim Abwaschen damit zugebracht haben, auf eine Wand zu starren. Darum ist meine Antwort eine Art Nicht-Küche. Ich versuche, die Idee zu verändern, dass eine Küche immer aus einem Block und einer Insel bestehen muss. Für mich ist jedes Element eine eigene Insel.

Wodurch es keine klare Ausrichtung mehr gibt.
Absolut. Man kann die Elemente bewegen, muss es aber nicht. Man hat das Gefühl, dass alles nicht so festgelegt und unveränderlich ist. Damit ändert sich auch die Hierarchie der Dinge. Die Leute wollen in einer normalen Küche immer nur den Ofen hervorheben. Bei mir ist es die Halterung der Küchenrolle. Sie ist sogar so schwer, dass man sie nicht bewegen kann. Das ist ganz angenehm. Denn so weiß ich immer, wo sich die Küchenrollen befinden. Doch der Kühlschrank und alle anderen Möbel lassen sich auf Rollen umherfahren. Der Raum ist nicht spezifisch determiniert. Es gibt keine Regeln.

Im Wohnzimmer wächst bei Ihnen eine echte Straßenlaterne aus einer Tischplatte heraus. Welche Idee steckt hinter diesem Ready-made-Transfer?
Auch dieser Entwurf spielt mit dem Gedanken, draußen und gleichzeitig drinnen zu sein. So dringt die Straßenbeleuchtung in die Räume ein. Das gleiche gilt für diesen kleinen Beistelltisch, der über eine integrierte Kochstelle verfügt. Er hat etwas von einem Utensil fürs Camping, das nun drinnen statt draußen stattfindet. Beide Tische werden von dünnen Beinen angehoben. Dadurch wirken die Platten wie Metaebenen, die über dem Boden schweben. Es geht mir nicht so sehr um die tragenden Konstruktionen der Tische. Viel wichtiger ist das Programm, was auf den Platten passiert.

Sie haben vorhin Kazuyo Sejima angesprochen. Was haben Sie während Ihrer Zeit bei SANAA in Tokio noch gelernt?
Im Grunde alles. Sie sind Genies darin, alles auszuprobieren. Darum sind sie nie zufrieden, was natürlich nicht gut ist fürs Geschäft. Sie ändern ständig den Entwurf, verbessern und verfeinern ihn. Sie wollen viele Optionen sehen. Aber sie nutzen diese Optionen auch, um etwas Unerwartetes herauszukitzeln. Gleichzeitig gibt es Sicherheit. Denn so weiß man, was funktioniert und was nicht und welche Idee schlussendlich die stärkste ist.

Gestaltung ist Ihnen in die Wiege gelegt worden. Ihr Vater Ivan Chermayeff war ein berühmter Grafiker und Corporate Identity Designer, Ihr Großvater Serge Chermayeff ein einflussreicher Architekt und Theoretiker. Was haben Sie von ihnen gelernt?
Mein Vater hat Logos entworfen, die wirklich universell sind, wie der NBC-Pfau, der Mobil-Schriftzug mit dem roten O oder das Oktogon der Chase Manhattan Bank. Diese Dinge sind wirklich überall zu sehen. Er hat allerdings nicht verstanden, warum ich Architekt geworden bin. Er sagte: „Ich mache nie etwas, das länger als fünfzehn Minuten dauert.“ Und das war kein Witz. Die meisten seiner Entwürfe hat er wirklich so schnell gemacht und war sehr erfolgreich damit.

Und Ihr Großvater?
Er schrieb 1963 das Buch Community and Privacy: Toward a New Architecture of Humanism. Darin setzte er sich mit menschlichen Beziehungen auseinander. Wenn man so will, ist dieses Gebäude in der Kurfürstenstraße eine Antwort darauf. Mein Großvater hat sich auch für Möbel interessiert, die nicht nur elegant waren, sondern sich um Gemeinschaft und Privatsphäre drehten. Ich glaube, ich werde nie etwas machen, das so eine starke Reichweite haben oder so oft gedruckt wird wie die Logos von meinem Vater. Dafür mache ich das, was mein Großvater getan hat. Es gefällt mir, seine Ideen weiterzuentwickeln. Wir sind beide mehr an Menschen interessiert, auf eine seltsam unspezifische Weise.

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Links

June14 Meyer-Grohbrügge & Chermayeff

june-14.com

Sam Chermayeff Office

samchermayeffoffice.com

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