Alles andere als Normcore
Theorie trifft Protest: Holzhaus von Jennifer Bonner.

Kleine Revolutionen und der Wunsch nach einem Paradigmenwechsel: In Atlantas Viertel Old Fourth Ward hat das Studio MALL ein Haus aus Brettsperrholz entworfen, das in den USA nahezu einzigartig ist – im ganzen Land stehen nur zwei mit diesem Werkstoff konstruierte Häuser. Die Raumaufteilung folgt bewusst nicht gewohnten Konventionen wie dem rechten Winkel, sondern schafft für jeden Raum das passende Volumen.
Eigentlich ist das Haus Gables „gewöhnliche“ Architektur. Das zumindest sagt seine Gestalterin Jennifer Bonner, Gründerin des Studios MALL und Professorin für Architektur in Harvard, und meint damit seine klassischen Materialien, die Satteldächer und geläufigen Typologien. Aber die ästhetischen Störer, die schon in der Fassade dafür sorgen, dass das Einfache hier nicht mit dem Banalen verwechselt wird, zeigen sich als gezielt platzierte Abweichungen. Die Architektur des Hauses vermeidet Regelmässigkeiten und orthogonale Symmetrien. Klassisch sind gerade einmal die rechteckige Grundfläche und die weiß verputzte Backsteinfassade. Die Dachkrone hingegen schiebt sich in steilen Zacken in den Himmel. Sie besteht aus sechs unterschiedlich großen und hohen Giebeln, die ineinander übergehen. Der Bau wirkt mit seinem asymmetrischen Profil, als wäre er aus einem größeren Komplex herausgeschnitten worden. Für den offensichtlichsten Irritationsmoment sorgen die Fenster, von denen keines einem anderen gleicht und die alle in unterschiedlicher Höhe eingebaut wurden.
Raum statt Fläche
Jennifer Bonner hat sich bei der Konstruktion des Gebäudes an zwei Ideen großer Architekten orientiert: Adolf Loos' Raumplan und Le Corbusiers plan libre. Sie gestaltete nicht nach der Idee von Etagen und Räumen, sondern Volumen. Die Zwischenwände sind weniger tragende Notwendigkeit als raumbildende Membranen. Die Funktionsflächen erschliessen sich beim Durchlaufen fließend, schaffen Sichtachsen und spielen mit unterschiedlichen Raumhöhen. „MALL denkt Architektur auf spielerische Weise neu“, erklärt die Architektin. Für den Bau wurde ein besonderes Schichtholz verwendet, das durch eine gegenläufige Verleimung der Furniere besonders stabil wird – und den monolithischen Charakter der Gebäudearchitektur von außen nach innen fortsetzt. Hülle und Grundriss werden mit der Symbiose von Raum und Dach zu einer Einheit. Die Rücken und Täler lassen über den Flächen sakrale Architekturen mit bis zu doppelter Raumhöhe entstehen. Dabei hält Jennifer Bonner sich in Bezug auf die Dachneigungen bewusst nicht an Industriestandards und hat zugunsten der darunter liegenden Flächen die Winkel steiler angelegt. Es sind diese kleinen Abweichungen vom Normalen und Gewohnten, mit denen die Architektur ganz bewusst spielt.
Modernes Mimikry
Trotz der offenen Fläche und der durchbrochenen Etagen bietet das Haus mehr als 200 Quadratmeter Grundfläche. Um die monochrome Oberfläche des Holzes in den weiten Räumen zu brechen, bediente sich die Architektin einer für den amerikanischen Süden typischen Tradition. Weil viele Hauseigentümer sich hier keine luxuriösen Materialien leisten konnten, lernten die Handwerker Edles authentisch zu kopieren. Im Haus Gables wurde aber kein falscher Marmor aufgepinselt, sondern mit dem Prinzip des Color Blocking gespielt. „Als ich ein Haus komplett aus CLT-Sperrholz baute, wollte ich dem Holzinterieur mit künstlichen Oberflächen entgegenwirken. Diese falschen Materialien sind farbenfroh, mutig und ein Bluff,“ erzählt die Architektin. Den setzt sie auch bei der Fassade des Holzhauses fort. Während die Räume den Eindruck erwecken, man habe ihren unteren halben Meter in ein knalliges Farbbad getunkt, sind zwei Fassadenseiten mit Glasperlen besetzt. Die Architektur ist durch ihren subversiven Protest gegen die Normen vom Punk nicht allzu weit entfernt – bleibt dabei aber der Tradition gegenüber immer höflich.
FOTOGRAFIE NAARO / Tim Hursley
NAARO / Tim Hursley
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