Belesenes Kontinuum
Identität durch Bücher: Wie h2o architects eine Pariser Dachgeschosswohnung reaktivieren.

Schluss mit der Quarantänehaltung großer Büchersammlungen: Mit diesem Dachumbau im vierten Pariser Arrondissement zeigt das Büro h2o architects, wie eine stattliche Menge Lesestoff auch ohne separate Heimbibliothek zu bewältigen ist: als spielerisches Element der Raumgestaltung – das selbst mit einem Budget von lediglich 70.000 Euro erstaunliche Ergebnisse erzielt.
Auch wenn E-Books auf dem Vormarsch sind: Nichts ersetzt die physische Präsenz von gedrucktem Papier, das angenehm in den Händen liegt und jedem Raum auf Anhieb Wärme und Atmosphäre verleiht. Doch wie alle Sammler vereint auch Papierliebhaber eine Schwäche: Sie können von bedruckten Seiten weder genug bekommen noch sich wieder von ihnen trennen. Und so wächst das Bücherregel vom Solitär zur Wand, bis es irgendwann den gesamten Raum okkupiert: als Rückzugsort des Wissens, der nur noch mit Bedacht und reichlich Zeit betreten werden darf. Der Mittelpunkt des Wohnens hat sich dann längst woandershin verschoben.
Genau an dieser Stelle begann die Arbeit des Pariser Büros h2o architects. Bei einem Dachgeschossumbau im vierten Arrondissement sollte eine stattliche Büchersammlung aus der Quarantänehaltung zurück in den Alltag der Bewohner finden. 70.000 Euro standen den Architekten für diese räumliche Intervention zur Verfügung. Statt die Bände in einem einzelnen Zimmer zu bündeln, durchziehen die Regale nun als wiederkehrendes Motiv die 70-Quadratmeter-Wohnung einer Familie mit zwei Kindern.
Nach dem Sonnenstand
Den Anstoß dafür lieferte der offene Grundriss, in dem drei Chambres de Bonne, also ehemalige Dienstbotenkammern, zu einem zentralen Wohnraum verbunden wurden. Weil ein Zimmer nach Osten, ein anderes nach Westen und ein weiteres nach Süden ausgerichtet ist, variiert die Helligkeit mit dem Stand der Sonne. Das atmosphärische Zentrum ist nicht festgelegt. Es durchwandert vielmehr ein bücherdurchdrungenes Kontinuum und öffnet immer wieder neue Blickachsen zwischen den einst getrennten Zonen.
Charmante Schräge
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Struktur der dreizehn Regale, mit denen h2o architects die statische Schwere konventioneller Aufbewahrungsmöbel unbedingt vermeiden wollten. Die Regale lehnen nicht an den Wänden, sondern wachsen direkt aus ihnen heraus. Statt einem gleichförmigen Gitterraster zu folgen, springen die Unterteilungen auf jeder Bücheretage abwechselnd nach links und rechts und lockern das Gesamtbild auf.
Je nach Neigung
Während die herausstehende Seite der Regale stets vertikal in die Höhe ragt, folgt die andere dem Neigungswinkel der Dachschrägen. Der Clou dabei: Nur selten schmiegen sich die Einbaumöbel direkt an die geneigten Dächer an, sodass in den meisten Fällen weiß verputzte Wände für eine neutrale Pufferzone sorgen. Indem die Regale den Neigungswinkel der Dachschrägen aufgreifen, erhalten sämtliche Wände einen rautenförmigen Zuschnitt. Architektur und Möbel verschmelzen so zu einer Einheit, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren.
Die Materialität spielt dabei eine große Rolle: Die weißen Wände setzen sich deutlich von den aus Eichenholz gefertigten Regalen ab. Diese wiederum korrespondieren mit dem im Fischgrätmuster ausgelegten Eichenparkett, das allerdings nicht den gesamten Fußboden des Wohnzimmers ausfüllt. In den Ecken verwendeten die Architekten schneeweiße Holzleisten, sodass die Raumgrenzen leicht unscharf erscheinen.
Schalldämpfer
Durch diesen Kniff wird ein eichenbelegter, zentraler Pfad definiert, der einen regelrechten Sog durch die Mitte des Wohnraums erzeugt. Hier offenbart sich noch eine weitere Qualität der Einbaumöbel. Mit ihrem Inhalt schlucken sie souverän den Hall, sodass der Open Space alles andere als zugig oder gar unterkühlt wirkt. Im Gegenteil: Er versprüht die Wärme eines wirklichen Wohnzimmers und macht zudem den Staub einer konventionellen Heimbibliothek vergessen.
FOTOGRAFIE Stéphane Chalmeau
Stéphane Chalmeau
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