Block mit Dekolleté
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Am 03. September hat die Universitätsbibliothek von Helsinki ihr neues Hauptgebäude bezogen. Nur einen Steinwurf von Eliel Saarinens Hauptbahnhof entfernt, passt sich der Bau mit seiner dunklen Backsteinfassade in die Umgebung ein und sorgt dennoch für Dynamik im Block. Überzeugen kann der Entwurf des jungen finnischen Architekturbüros Anttinen Oiva Arkkitehdit mit schwungvollen Einschnitten, die viel Tageslicht ins Innere hinein holen.
Den meisten Neubauten steht eines ins Gesicht geschrieben: dass sie neu sind. Ob in ihrer Materialität, ihren Proportionen oder schlichtweg in ihrem Farbton, sie wirken wie aus dem Ei gepellt. Umso erstaunlicher ist es, wenn sich ein Gebäude in seine Umgebung einzufügen vermag, als wäre es schon immer da gewesen – ohne dabei in historisierende Elemente oder gähnende Langeweile zu verfallen. Denn die Reparatur des städtischen Blocks ist mehr als eine Pflichtübung. Sie ist, gemessen an ihrem Schwierigkeitsgrad, die Kür für jeden Architekten.
Inside-Out-Effekt
Mit einer Note am oberen Ende der Bewertungsskala in dieser Disziplin kann das junge Architekturbüro Anttinen Oiva Arkkitehdit aus Helsinki für seine Erweiterung der Universitätsbibliothek in der finnischen Hauptstadt rechnen. Mit einem Volumen von 131.500 Kubikmetern fügt sich ihr Entwurf derart stimmig in das Raster der Stadt ein, dass es keine sieben Tage nach der Eröffnung schwer fällt, ihn überhaupt als Neubau zu identifizieren. Doch ganz so simpel ist die Sache freilich auch nicht. Denn obwohl die Bibliothek mit ihrer dunklen Backsteinfassade die Materialität des Blocks aufgreift und in ihrer Höhe unmittelbar an die Nachbargebäude anschließt, ist sie klar im Hier und Jetzt verortet.
Als Indikatoren dienen hierfür insgesamt vier bogenförmige Einschnitte – drei davon an der Vorderseite, einer an der Rückseite des Gebäudes –, die dem Block den nötigen Schwung verleihen. Indem die Fassade einem Raster aus kleinen quadratischen Fenstern unterworfen ist, wird eine klare Lesbarkeit der einzelnen Etagen vermieden. Der großformatige Bogen, der wie ein tiefes Dekolleté an der Vorderseite von der Dachkante hinabreicht, gibt einen Einblick in das komplett in weiß gehaltene Innenleben. Für eine Gegenbewegung sorgen zwei Bögen im Erdgeschoss, die den Höhensprung der Straße Vuorikatu Berggatan um eine Etage in der Fassade lesbar machen und die beiden Vordereingänge markieren.
Schwung am Block
Während die gläserne Front des höher gelegenen Einschnitts bündig mit der Backsteinfassade abschließt, korrespondiert der tiefer gelegene Bogen mit dem Grundriss der Stadt. Denn die Straße Kaisaniemenkatu, die vom Hauptbahnhof direkt auf die Bibliothek zuführt, vollzieht an der Kreuzung zur Vuorikatu Berggatan eine Linkskurve. Das Gebäude reagiert darauf mit einer zweitgeschossigen Einbuchtung, die in den Block geschnitten wurde. An dieser Stelle befindet sich der Zugang zu einem Supermarkt, während eine Rolltreppe zur rechten Hand hinauf zu einem kleinen Café und von dort zum Eingang der Bibliothek führt.
Auch die Innenräume greifen den Schwung der Fassade auf. Eine Wendeltreppe sorgt für Dynamik bei der Passage vom einem Stockwerk zum anderen und erspart endlose Warterunden vor den Aufzügen. Ein Atrium mit elliptischem Grundriss durchbricht die Etagen und sorgt für Blickkontakte unter den Besuchern, die hier nicht selten zum ersten Mal aufeinandertreffen. Denn bisher waren die Bibliotheken der fünf Fakultäten auf mehrere Standorte im gesamten Stadtgebiet verteilt und konnten nun in einem einzigen Gebäude gebündelt werden.
Die Stadt als Bühne
Für viel Tageslicht sorgt das Atrium an der Rückseite des dekolleté-artigen Fassadeneinschnitts, das sich über vier Etagen erstreckt. Indem die drei oberen Stockwerke halbkreisförmig zurückversetzt wurden, wirken sie wie Ränge in einem Theater. Die große Fensterfront wird auf diese Weise zur Bühne und die Stadt zur Inszenierung, die die Besucher in den voluminösen Karuselli-Clubsesseln von Yrjö Kukkapuro verfolgen können. Auch an weiteren Stellen des Gebäudes werden Möbel zu informellen Sitzgruppen arrangiert, darunter der Domus-Sessel von Ilmari Tapiovaara oder großformatige Polsterlandschaften, deren bunt gewürfelte Bezüge mit der heterogene Erscheinung der Bücherwände korrespondieren.
Ungewöhnlich an diesem Bau mag auch das junge Alter ihrer Entwerfer sein. Denn die beiden Architektinnen Anna Selina Anttinen und Vesa Tuomas Oiva haben ihr Büro erst 2006 in Helsinki gegründet und mit der Universitätsbibliothek ihr erstes, größeres Gebäude fertig gestellt. Dass es sich lohnt, ihre Namen auch weiterhin auf der Agenda zu behalten, belegt eine eindrucksvolle Zahl: Allein bis 2010 sind sie bei 18 Wettbewerben unter die finalen Drei gelangt und haben stattliche neun Mal das Siegerpodest erklommen.
Weitere Beiträge zum Thema Helsinki und finnischem Design finden Sie in unserem Special.
FOTOGRAFIE Tuomas Uusheimo
Tuomas Uusheimo
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