Brutalistischer Balance-Akt
Rund 18 Kilometer nordwestlich von Madrid entfernt liegt die Gemeinde Las Rozas. Umgeben von den malerischen Gebirgszügen der Sierra de Gredos und der Sierra de Guadarrama entstand hier im Jahr 2008 in nur sieben Tagen Bauzeit ein skulpturales Meisterwerk bestehend aus einem Arrangement aus Stahl, Glas und Beton. Insgesamt wurden sieben Tragwerkselemente in einer horizontalen Anordnung spiralförmigen aufeinandergestapelt, die durch einen 20 Tonnen schweren Granitblock auf dem höchsten Punkt der Konstruktion in der Schwebe gehalten werden. Und: Einer der Betonträger dient neben seiner statischen Funktion auch noch als Schwimmbad. Der Name dieses raffinierten Spiels mit der Schwerkraft: „Hemeroscopium House“. Mit ihm liefern die Architekten des madrilenischen Architekturbüros Ensemble Studio rund um Antón García-Abril den Beweis, dass Architektur nicht nur eine methodische Abhandlung ist. Ihre Architektur gleicht einem akrobatische Gedanken: phantasievoll und unerschrocken.
Der Name dieses Projektes findet seinen Ursprung in der griechischen Geschichte: Das Hemeroskop ist der Ort, an dem die Sonne untergeht. Ein fiktiver Ort also, der nur in unserer Vorstellung existiert und daher nicht räumlich definierbar scheint. Aber dennoch gibt es ihn – eingegrenzt durch seine Beziehung zum Horizont und seiner physischen Begrenzbarkeit durch das Licht. Das Hemeroskop ist demnach ein eingrenzbarer Wohnort und weit entfernter Horizont zugleich – so der Architekt.
García-Abril begann beim Entwurfsprozeß dieses Projektes mit genau diesen Strukturen zu spielen. Dabei war die zweifellos größte Herausforderung, eine statische Konstruktion zu schaffen, die seiner Vision gerecht wurde, Schwere in Leichtigkeit umzukehren. Erreicht wurde dies durch die offene Bauweise der scheinbar instabil angeordneten Strukturen. Dadurch bleibt der Blick nach draußen stets frei, und zwar genau dort, wo die Schwerkraft mit einem schwebendem Zustand ringt.
Antón García-Abril selbst wurde 1969 in Madrid geboren und beendete im Jahre 1995 mit dem Master im Bereich Architektur sein Studium an der ETSA in Madrid. Fünf Jahre später gründete er das Architekturbüro „Ensemble Studio“. Neben seiner Arbeit als Architekt und Dozent schreibt er für das Magazin „El Cultural“ und erhielt für seine Arbeiten bereits zahlreiche Auszeichnungen, wie beispielsweise den „Architectural Digest Award for Best Architect“ im Jahre 2008.
Zwei Jahre versus sieben Tage
Mit dem Hemeroscopium House gelang es Ensemble Studio, ein Szenario an Gegensätzlichkeiten geschaffen. Es dauerte rund zwei Jahre, die Statik der sieben nach oben hin schlanker werdenden Fertigteile – bestehend aus fünf Beton- und zwei Stahlträgern – zu berechnen. In hingegen nur sieben Tagen wurden die geschosshohen Träger wie bei einem Mikadospiel spiralförmig horizontal übereinandergeschichtet. Dabei wurde darauf geachtet, die plastischen Qualitäten der verschiedenen Träger in den Vordergrund zu rücken und gleichzeitig deren Massivität nach oben hin zu verjüngen. Auf dem höchsten Punkt der Tragelemente ruht ein rund 20 Tonnen schwerer Granitblock, von den Architekten süffisant als G-Punkt der Gesamtkonstruktion bezeichnet. Er bildet das Gegengewicht und hält die einzelnen Träger in der Balance.
Der Spagat zwischen Massivität und Leichtigkeit
Das Haus, besser gesagt der entstandene Raum inmitten der Tragstruktur, erscheint trotz seiner massiven Tragkonstruktion erstaunlich leicht und transparent. Mitverantwortlich dafür zeigen sich insbesondere die geschosshohen Glaselemente. Dank ihnen wird die Vision, dem Konstrukt aus Stahl und Beton jederzeit entkommen zu können, aufrecht erhalten.
Das Interior als solches präsentiert sich eher reduziert und puristisch unterkühlt. Wände aus Sichtbeton, garniert mit Designklassikern wie dem „Day Bed“ von Mies van der Rohe, der Leuchte „Arco“ von Achille Casteglioni und einer schwarzen Le Corbusier-Liege. Das Erdgeschoss selbst gestaltet sich als langer, seitlich geschlossener Wohnraum. Rechtwinklig dazu schließen sich eine offene Küchenzeile und der Essbereich an. Eine schmale Stahltreppe erschließt von dort aus das Obergeschoss, in dem Bad- und Schlafbereich untergebracht sind. Bodentiefe Fensterfronten erwecken den Anschein, dass die darüber befindliche massive Betontdecke über dem Gesamtkonstrukt zu schweben scheint. Zusätzlich bieten verschiebbare Fassadenelemente die Option, den Raum nach außen hin erweitern zu können.
Ein Betonträger mal anders
Blickfang des ersten Obergeschosses ist zweifelsohne das schmale Schwimmbecken in Form eines auskragenden U-Stahlbetonträgers, dessen Aufgabenbereich neben seiner eigentlichen Funktion als statisches Tragelement um die einer „Schwimmbahn“ erweitert wurde. Die Stirnseiten wurden verglast, so dass man sich in diesem überdimensionalen Tragelement wie inmitten einer riesigen Badewanne fühlen dürfte. Der Effekt: Es gibt ausreichend Platz, um beispielsweise morgens nach dem Aufstehen ein paar Bahnen zu schwimmen – Panorama inklusive. Umfangen wird dieses „Becken“ von einer auf den Kopf gestellten A-Stütze, die ein zusätzliches Schwimmbecken im Bereich des ebenerdigen Patios flankiert.
Mit seinen massiv monumentalen und auch schon als außerirdisch bezeichnetem Entwurf provoziert Antón García-Abril bewusst den vermeintlichen „Mainstream“. Er selbst sagt, es ginge ihm um die skulpturale Qualität eigentlich banaler Elemente – wieso also nicht auch einmal Tragwerkselemente, die sich normalerweise nur in Industrie oder Strassenbau finden, bei der Konstruktion eines exklusiven Wohnhauses verwenden?
FOTOGRAFIE Ensemble Studio, Roland Halbe
Ensemble Studio, Roland Halbe
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