Das Vogelhaus
Retallack Thompson entwarf ein Nest für flügge Kinder

Was tun, wenn das Einfamilienhaus zu eng und die Kinder langsam flügge werden? Diese Frage stellte sich eine vierköpfige Familie in einem Vorort von Sydney. Sie brauchte einen weiteren Raum. Was sie bekam, war ein ganzes Haus. Und ein Haustier noch dazu. Denn die Architekten Jemima Retallack und Mitchell Thompson ließen sich für den rückseitigen Erweiterungsbau von der Tierwelt inspirieren. Zwischen Baumkronen und Straße schufen sie ein warmes Nest samt spitzem Schnabel, schlanken Vogelbeinen und wachsamen Augen.
Eigentlich wünschten sich die Bewohner des viktorianischen Stadthauses im Sydneyer Vorort Erskineville einfach nur etwas mehr Platz. Die ältere der beiden Töchter hatte gerade ein Studium aufgenommen und beanspruchte mehr Privatsphäre, wodurch das Einfamilienhaus an seine Grenzen stieß. Sie sollte ein weiteres Schlafzimmer bekommen. Doch Wohnen in einer so prädestinierten Lage ist teuer, was die Architekten von Retallack Mitchell vor recht begrenzte Budgetvorgaben stellte. Dass sie gleich ein zweites Gebäude für die Rückseite des Grundstücks entwarfen, mag da zunächst überraschen.
Kreative Kreatur
Doch der Plan geht auf. Als eigenständiges Studio samt Kochmöglichkeiten und Badezimmern geplant, sollte die neue Wohnfläche auch die Möglichkeit temporärer Vermietungen bereithalten, sobald sich die Töchter nicht mehr dort aufhielten. Zweifel der Bauherren zeichneten sich an anderer Stelle ab. Ein Neubau, der den Raum zwischen Haus und Straße okkupiert, hätte durchaus die Wohnqualität des Haupthauses schmälern können. „Das wichtigste Anliegen unserer Kunden waren die Ausblicke und ausreichend Sonnenlicht im Innenhof“, erklären die Planer, deren Kreativität an diesem Punkt offenbar angekurbelt wurde. Denn sie stellten sich den Bau als ein Haustier vor, das den Alltag der Menschen aufnimmt und mit ihnen interagiert.
Architektonische Höhenflüge
In der Praxis bedeutet das eine offen angelegte äußere Struktur, die sich geschickt um das Grundstück herumlegt, ohne viel Hoffläche einzunehmen. „Wir hoben den Bau von der Grundebene an und stellten ihn auf schlanke vogelartige Stahlbeine“, so die Architekten, die dem Projekt den Titel „Erskineville Creature“ gaben. Der darunterliegende Hohlraum wird als überdachte Parkfläche genutzt und dient weiterhin als offener Durchgang zum vorderen Wohnhaus. Zu drei Seiten geöffnet, gelangt außerdem viel natürliches Licht in den Innenhof. Als Abgrenzung zur Straße wählten die Architekten ein Tor aus weiß lackiertem, perforiertem Metall, das auch im geschlossenen Zustand Sichtlinien zur Nachbarschaft ermöglicht.
Diese transparente Gestaltung setzten die Architekten für die Räume des Neubaus fort. Und auch hier diente die Vogelwelt als Inspiration. „Verdeckte flügelartige Luken und Türen geben Einlass in ein warmes und intimes Interieur“, sagt das Planerduo. Ein quadratisches Panoramafenster Richtung Straße flute den gesamten Wohnraum mit natürlichem Licht und erscheine von draußen betrachtet wie ein „ein wachsames Auge“. Tatsächlich erinnern die Fenster mit ihren einfachen, geometrischen Formen und den Pop-up-Mechanismen auch ein wenig an die Konstruktion eines Baumhauses.
Warmes Nest
Dem Dach verliehen die Architekten eine dramatische Spitze, die in diesem Kontext Assoziationen an einen Schnabel oder einen spitzen Wachhundzahn wachruft. Auch hier integrierten sie eine große Öffnung, die die Sicht in den Himmel freigibt. So verliehen die Architekten der Hülle der kleinen Zweitwohnung zwar eine kantige, leicht aggressive Formensprache, im Inneren aber schufen sie ein geschütztes und gemütliches Refugium. Die unteren Bereiche der Wände und die Möbel setzten sie in hellem Holz und einem warmtonigen Terracotta um. Die oberen Wandteile bis zur Decke hingegen strichen sie weiß, „um dem ansonsten kompakten Studio ein Gefühl von Entspannung und Höhe zu verleihen.“
In der Küche und im Bad verwendeten sie helles Grau. Diese Farbwahl soll die am Rand des Wohnraums angesiedelten Nutzräume weiter in den Hintergrund treten lassen, sie sozusagen verschatten. Ebenfalls terracottafarben gestrichene Schiebetüren sorgen dafür, dass die funktional und formreduziert ausgestatteten Räume optisch weiter verschwinden. So entsteht ein einheitlicher, harmonischer Gesamteindruck der kleinen Zweitwohnung, der die Blicke in den Himmel und in die Baumkronen lenkt. Ein gemütliches Nest also, in das die flüggen Kinder sicher gerne immer wiederkehren.
FOTOGRAFIE Benjamin Hosking
Benjamin Hosking
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