Fenster zum Wald
Außen schwarz, innen Beton: elegantes Haus in Aarau.

Dass man selbst auf einer kleinen Restparzelle ein Wohnhaus von bestechender räumlicher und gestalterischer Qualität schaffen kann, haben Schneider & Schneider Architekten in Aarau mit einem Betonbau von großer Individualität eindrücklich bewiesen.
Wie ein Scherenschnitt spannt sich das nackte Geäst des Waldes im Winter hinter dem riesigen Fenster des Wohnraumes auf. „Der Sommer ist vergleichsweise langweilig“, meint Beat Schneider und blickt auf die grüne Blätterwand, welche das Panoramafenster des Wohnraums derzeit wie ein Bild rahmt. „Besonders schön ist es im Herbst, wenn sich die Bäume unterschiedlich verfärben, und der Anblick jeden Tag ein anderer ist.“ Es war denn auch die Lage, die den Ausschlag zum Kauf der kleinen Restparzelle am Rande des Aarauer Goldern-Quartiers gegeben hatte. Die Lage und die Überzeugung der Architektenbrüder Schneider und Tobias Sager, ebenfalls Architekt, dass, wie schon das alte Sprichwort sagt, Raum selbst in der kleinsten Hütte ist. Wobei „Hütte“ dem Einfamilienhaus, welches auf dem trapezförmigen Grundstück entstanden ist, freilich alles andere als gerecht wird.
Die Architekten haben eine sich nach hinten verjüngende, schlichte Betonskulptur ersonnen, die sie in ein elegantes Kleid aus vertikal montierten, bis zu acht Meter langen Weisstannenbrettern gehüllt haben. Die Holzverschalung erhielt einen tiefschwarzen Anstrich, dessen Glanz das Gebäude je nach Tageszeit und Lichtstimmung in immer anderen Farben schimmern lässt. Der ungewöhnliche Umriss des Wohnhauses rührt von den Mindestabständen und lokalen Bauvorschriften her. „So banal es klingt“, schmunzelt Beat Schneider, „das Haus ist ein Baulinienprojekt.“ Doch die Schneider-Brüder wären nicht Schneider Schneider Architekten, wenn sie es sich so einfach gemacht hätten. Den speziellen Grundriss und die leichte Hanglage des Landstückes wussten sie geschickt auszunutzen.
Dank des ungewöhnlichen Grundrisses und den versetzten Etagen sind spannungsreiche Räumlichkeiten mit überraschenden Dimensionen entstanden. Der großzügige Wohnraum etwa trumpft mit einem Höhenunterschied zwischen dem Lesebereich, dessen niedrigere Decke die Ruhe und Introvertiertheit des Lesens unterstreicht, und dem überhohen repräsentativeren Unterhaltungsbereich mit offenem Kamin und dem eingangs beschriebenen Fenster zum Wald. Dass man sich beim Innenausbau fast ausschliesslich auf drei Materialien beschränkt hat, verstärkt den ruhigen und skulpturalen Charakter der Räume noch. Zum Einsatz kamen ein dem Mahagoni ähnliches Holz namens Muirapiranga für sämtliche Einbauten sowie ein grauer Samtstoff für die Vorhänge. Das Hauptmaterial des Hauses aber ist Beton. „Wir haben einen ganz gewöhnlichen Baubeton verwendet“, erklärt Beat Schneider. „Nur für die Böden haben wir ihn veredelt, indem wir ihn geschliffen haben.“ Tatsächlich sehen die Fussböden und Treppen des Wohnhauses aus wie ein edler Terrazzo und heben sich deutlich von den Wänden aus rohem Beton ab.
Die viel beschworene Reduktion aufs Wesentliche lässt sich mit dem flexiblen Baumaterial noch steigern. So verschwinden in dem Bau der Aarauer Architekten sämtliche Stromanschlüsse, Deckenleuchten, und Lichtschalter in den im Vorfeld bis ins letzte Detail geplanten Betonelementen. Unnötig zu erwähnen, dass die Perfektionisten auf Schnickschnack wie Fussbodenleisten, Fensterbretter oder Türrahmen verzichten. Wo die Bewohner unter Umständen gerne mal hinter sich abschließen möchten, kommen Schiebetüren zum Einsatz, was Schwellen, Stürze und Türfallen obsolet macht. Und selbst an den Fenstern vermisst man die üblichen Manifestationen von Öffnungsmechanismen. Hier setzen die Architekten auf das neuartige von der Schweizer Metallbaufirma Krapf entwickelte Air-Lux-System, bei welchem die Dichtung auf Knopfdruck Luft ablässt, so dass der Fensterflügel freigegeben wird und sich selbst bei einem Gewicht von über einer halben Tonne ganz leicht aufschieben lässt. Macht man das Fenster wieder zu, bläst sich die Dichtung von selbst wieder auf und schließt die Öffnung hermetisch ab.
Nicht unerwähnt bleiben darf die von Müller Illien Landschaftsarchitekten gestaltete Umgebung. Ein Meer aus unterschiedlichen, streng angeordneten Heckenpflanzen stellt dem schwarzen, in die Vertikale strebenden Gebäude eine grüne, geometrisch gemusterte horizontale Fläche gegenüber. Ein schmaler Pfad durchs akkurat auf 70 Zentimetern getrimmte Gebüsch dient nicht etwa dem Lustwandeln, sondern ist einzig für Pflege und Schnitt des Grünraums gedacht. Den Außenraum nicht als piefiges Vorgärtchen zu gestalten – was ohnehin nicht zum Aarauer Architekturbüro gepasst hätten – zeigt sich als cleverer Schachzug. Dank dem Verzicht auf Eingrenzung wirkt die kleine Restparzelle mit einem Male gar nicht mehr so klein.
FOTOGRAFIE Martin Guggisberg
Martin Guggisberg
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