Gerettete Ruine
Vorbildliches Restaurierungsprojekt in Lissabon von rar.studio
Man mag es sich vorstellen: Das verfallene Haus findet einen neuen Eigentümer und in den drei noch belegten Wohnungen bangen drei alte Damen mit schmaler Rente um ihre Mietverträge. Doch dann kommen statt drei Kündigungsschreiben drei junge Damen ins Haus, die ein Bleiberecht aussprechen und die verfallene Schönheit des Baus wieder zu neuem Glanz erwecken wollen.
Wohin sich Lissabons Stadtteil Anjos derzeit entwickelt, ist leicht abzusehen: Seit rund zehn Jahren haben sich hier zunehmend Künstler und Kreative niedergelassen, die von gestiegenen Mieten aus anderen Stadtteilen vertrieben wurden. Es gibt Cafés und Bars, Sozialinitiativen und Konzerte an charmanten Orten. Doch mittlerweile sanieren hier auch Investoren aufwendig Häuser, um sie kurzzeitig zu vermieten oder als luxuriöse Eigentumswohnungen weiterzuverkaufen.
Ein Herz für die hundertjährige Schönheit
In der Rua Cidade de Manchester fassten sich drei junge Damen vor rund fünf Jahren ein Herz – für sich und für das Quartier gleichermaßen: Sie kauften zusammen ein mehr als hundert Jahre altes Haus. Denn sie hatten sich ausgerechnet, dass es angesichts des boomenden Lissabonner Immobilienmarktes günstiger wäre, gemeinsam ein Gebäude mit mehreren Wohnungen zu sanieren, als dass jede für sich ein Apartment kauft. Dass drei Wohnungen noch bewohnt waren, akzeptierten die neuen Eigentümerinnen. Die drei Mieterinnen, allesamt im Rentenalter, wohnten während der gesamten Bauphase im Haus und tun es noch immer, ihre Miete veränderte sich durch die Umbauten nur wenig.
Gegen den Strom der Gentrifizierung
Wer die Sanierung planen und umsetzen sollte, war schnell klar: Die Architektin Rita Aguiar Rodrigues ist mit einer der Bauherrinnen verwandt und mit den beiden anderen befreundet. Dass das Projekt gegen den allgemeinen Immobilienstrom in Portugals Hauptstadt schwimmt, war für die Planerin ein entscheidendes Argument: Hier gab es keine Spekulation, sondern selbstgenutztes Wohneigentum dreier natürlicher Personen – und ein Bleiberecht für die Bestandsmieterinnen. „Das ist so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was in Lissabon derzeit sonst passiert“, sagt Rita Aguiar Rodrigues, die in der portugiesischen Hauptstadt das Büro rar.studio leitet.
Im desolaten Zustand
Als die drei Freundinnen Eigentümerinnen des Hauses wurden, war sein Zustand desolat, Fenster fehlten, das Dach war undicht. „Die beiden obersten Geschosse waren ruinös und recht schnell stellte sich heraus, dass die Statik ertüchtigt werden musste“, erzählt Rita Aguiar Rodrigues. Insgesamt kommt das Ergebnis eher einem Neubau gleich – wenn auch einem außerordentlich charmanten.
Neue Elemente mit reduzierter Formensprache
Dahin brachte die Architektin eine durchdachte Abwägung: Alles, was mit vertretbarem Aufwand erhalten werden konnte, wurde erhalten. Wo man Elemente austauschen oder neu hinzufügen musste, geschah das mit passenden Materialien, Farben und einer reduzierten Formensprache, die sich harmonisch in die historische Umgebung einpasst. Manchmal erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen oder gar auf Nachfrage, was hier alt ist und was neu hinzugefügt. Vor allem ließ man sämtliche hölzerne Einbauten aufarbeiten: Böden, Treppen, Türen oder Fensterläden.
Liebevoll aufgearbeitete Bestandselemente
Der zeitgenössisch-reduzierte Stil – im Kontrast zum verspielten Original – half dabei, Kosten zu sparen. Denn für eine derart umfangreiche Sanierung war das Budget mit 1.000 Euro pro Quadratmeter eher knapp bemessen. Zu den aufgearbeiteten Bestandselementen kombinierte man neue Bauteile, wenn die alten nicht den Anforderungen entsprachen. So sind die Kehrleisten heute höher als zur Bauzeit, die Fenster haben eine neue Teilung mit geschickt ausgewählten Profilen und das Treppenhausgeländer im Erdgeschoss wurde seinem historischen Vorbild in reduzierter Manier nachempfunden.
Zentralheizung und Lift
Sämtliche Installationen wurden erneuert und eine solarbetriebene Zentralheizung eingebaut – „hier immer noch ein sehr seltener Luxus, wenn Wohnungen saniert werden“, wie die Architektin berichtet. Weil die Bauherrschaft einen Lift wünschte, musste das Treppenhaus im Erd- und Kellergeschoss komplett neu gestaltet werden. Was vorher nur als Lagerraum diente, beherbergt heute den Liftzugang, Installationsräume und die Briefkastenanlage. Für den neuen Teil des Treppenhauses verwendete man Lioz-Kalkstein, der aus der Region stammt. Die hölzernen Vertäfelungen wurden in einem leichten Rosé-Ton gestrichen, der sehr gut mit dem Kalkstein harmoniert.
Harmonische Pastelltönen
Auch in den Wohnungen, deren Grundrisse die Architektin nur minimal veränderte, wurden Küchen, Bäder und Einbauschränke in harmonischen Pastelltönen gehalten. Mit dieser Farbpalette, die ein bisschen an die Sechzigerjahre erinnert, verabschiedete man sich auch von der ehemals eher konstrastreichen Farbgebung des Hauses: Beim Kauf dominierten innen wie außen satte Braun- und Grüntöne. „Die Vorderfront des Hauses ist so schön, da mussten wir nur die historische Tür und die Handläufe aufarbeiten, die richtigen Fensterprofile und das perfekte Farbschema wählen – und schon strahlt sie wieder“, sagt Rita Aguiar Rodrigues.
Erweiterte Balkone und ein Garten
Der Lift sorgte dafür, dass die Rückseite des Hauses komplett verändert wurde und heute eine zeitgenössische Fassade hat – die übrigens isoliert wurde, wie die Architektin betont. Die bereits vorher vorhandenen, aber einsturzgefährdeten und teils nur notdürftig gesicherten Balkone wurden erweitert. Sie sind nach Norden orientiert – in Portugal ein gewichtiges Argument für die Aufenthaltsqualität im Sommer. Im Innenhof liegt ein kleiner Garten, der neu gestaltet wurde und den sich die Bewohner der beiden Apartments im Erdgeschoss teilen.
Einbauten und maßgefertigte Möbelstücke
In den einzelnen Wohnungen sorgen viele Einbauschränke dafür, dass der eher knapp bemessene Raum optimal genutzt werden kann. In Bädern und Küchen setzte die Architektin sowohl Natur- als auch Kunststein ein und ließ die in allen Wohnungen identisch gearbeiteten Küchenmöbel in unterschiedlichen Farben lackieren. Für die Wohnbereiche im Manchester Building gestaltete Rita Aguiar Rodrigues einige Möbelstücke exklusiv, unter anderem Regale, Esstische und Kaminblenden. Mit dieser Art der Sanierung hat hundertjährige Gebäude viel dazu gewonnen – nicht nur ästhetisch, sondern auch ideell.
FOTOGRAFIE Francisco Nogueira
Francisco Nogueira