Projekte

Kurvig in Kortrijk

Dieser Ausbau einer Fabriketage in Belgien macht einen Bogen um Konventionen.

von Toni Kny, 15.09.2015

Die wichtigsten Variablen in der Gleichung für umgebaute Fabriketagen sind hinlänglich bekannt: Viel Platz ist gleich viele Möglichkeiten. Unzählige Beispiele inszenieren den obligatorischen Factory-Charme zwischen nackten Wänden und der großen Leere, sind dabei aber häufig recht uniform. Das aktuelle Umbauprojekt des Genter Architektenduos Graux & Baeyens zeigt, wie man auf 150 Quadratmetern die Kurve kriegt.

Sozialneider sticheln gerne, Lofts dienten gemeinhin als Behausungen für Menschen mit überdimensioniertem Platzbedarf, dem nötigen Kleingeld zur Begleichung horrender Betriebskosten oder zur Inszenierung geschmäcklerischer Großzügigkeit. Doch bewohnte Fabriketagen sind mehr als Projektionsflächen für das längst verblasste Ideal einer Warhol'schen Wohn-Boheme. Architekten und Innenausstatter begreifen Lofts vor allem als Möglichkeitsräume. So veranschaulicht das von Basile Graux und Koen Baeyens geplante Loft M, wie der innovative Umgang mit der zwischen Boden und Decke aufgespannten Weite die Bedürfnisse und Ansprüche der Bauherrn auf besondere Weise erfüllen kann.

Solitär zwischen gestern und heute
Am Rande von Kortrijk, einer westflandrischen Kleinstadt unweit der belgisch-französischen Grenze, steht in einer blassen Brachlandschaft das alte Industriegebäude, das von außen gesehen aussieht wie hundert andere. Doch bereits der erste Blick hinter die rote Klinkerfassade lässt erahnen: Hier geht es nicht mit rechten Winkeln zu. Denn aus einem der vielen leer stehenden Räume des Solitärs entstand ein neues Zuhause für eine junge Familie, das mit viel Schwung die gewohnte Ästhetik großer Wohnlofts herausfordert.

Mit Schwung in die Gegenwart
Betritt man die Wohnung, wird schnell klar: Die original belassenen Elemente wie das rohe Mauerwerk, eine große Fensterfront und die Gewölbedecken bilden den optischen und konstruktiven Nenner mit dem üblichen Kanon klassischer Industriebauten. Der ursprüngliche Grundriss des zweigeschossigen Lofts umfasst einen großen, durch zwei mittig angeordnete Stahlpfeiler lose in zwei Hälften unterteilten Raum. Wie im Bestandsbau üblich, wurden zur Strukturierung der Grundfläche und Schaffung verschiedener Wohnbereiche Wände eingezogen – die allerdings alles, nur nicht orthogonal sind. Stattdessen findet sich eine avantgardistisch anmutende Häufung von Kurven.

Immer an der Wand lang             
Ausgangspunkt für die Entwurfsidee der geschwungenen Wände waren die zentralen Pfeiler, welche als tragende Elemente nicht entfernt oder verändert werden konnten. Um dennoch den Grundriss flexibel zu gestalten, ohne die lediglich auf einer Raumseite vorhandenen Fenster zu verbauen, entschieden die Architekten deshalb, die Wände um diese Pfeiler herum anzuordnen und so zwei weitere Raumgruppen zu schaffen. Das Ergebnis: Wie Wellen durchdringen die Wände das gesamte Loft, schaffen ungewöhnliche Blickwinkel und verhelfen der Wohnung so zu einer besonderen Dynamik, die eine ganz eigene, retro-futuristische Sprache spricht.

Räume im Raum
Durch die doppelte Geschosshöhe des Lofts war es möglich, eine zweite Ebene einzuziehen, wodurch sich weitere zweiundneunzig Quadratmeter Wohnfläche ergeben. Die so geschaffenen, zusätzlichen Räume der oberen Etage, die als Auskragungen fast schwebend in den offenen Wohnraum hereinragen, beherbergen Schlaf- und Badezimmer; in den unteren, konstruktiv versetzten Räumen befinden sich ein Arbeitszimmer, ein Wäscheraum und eine Kammer. Fast könnte man meinen, beim Anblick dieser ondulierende Fassade und der vorspringenden Volumen müsse einem schwindeln. Doch in der Totalen wird aus den scheinbar ungeordneten Flächen eine harmonische Bewegung, die dem Loft M eine geradezu erhabene Ruhe verleiht. Großzügige, schwarz gerahmte Panoramafenster schaffen dazu einen formalen Kontrast, ermöglichen interessante Sichtachsen innerhalb des Apartments und lenken den Blick immer wieder auf neue Bahnen.

Eine weiße Entscheidung
Doch die konkaven und konvexen Fronten dienen nicht nur als optische und strukturelle Trennungen der Rückzugsräume vom Wohnbereich. Denn wenn auch das durch die großflächigen Fenster einfallende Tageslicht die offene Küche und den angrenzenden Essplatz scheinbar in den Fokus rückt, ist es das gemächliche Spiel aus wanderndem Licht und flüchtenden Schatten auf den gekrümmten Oberflächen, das dem Loft seine Atmosphäre verleiht. Um diesen Effekt zu noch verstärken und eine möglichst große Streuung der Helligkeit auch im hinteren Teil der Wohnung zu erreichen, fiel die Entscheidung bei der Wahl der Farben für die Wände auf einen pigmentierten Kalkputz in einem matten Beige-Grau; weiße Polyurethan-Böden bewirken die visuelle Vereinigung von horizontalen und vertikalen Flächen und verleihen der sonst eher harten Fabrik-Ästhetik eine dezente, wohnliche Qualität.

Kurvendiskussion
Aus dem Mathematikunterricht wissen wir: Die kürzeste Verbindung zweier Punkte ist gerade. Im Alltag vermeidet man Umwege, indem man Abkürzungen geht. Doch wichtig ist nicht nur, dass man schnell ankommt, sondern auch, ob der Weg schön ist. Das belgische Umbauprojekt zeigt, wie die Abkehr von den Konventionen zu einer runden Sache werden kann. Und bringt vielleicht auch Skeptiker dazu, beim Anblick dieses kongenialen Entwurfs die Biege zu machen.

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