Kurvig in Kortrijk
Dieser Ausbau einer Fabriketage in Belgien macht einen Bogen um Konventionen.

Die wichtigsten Variablen in der Gleichung für umgebaute Fabriketagen sind hinlänglich bekannt: Viel Platz ist gleich viele Möglichkeiten. Unzählige Beispiele inszenieren den obligatorischen Factory-Charme zwischen nackten Wänden und der großen Leere, sind dabei aber häufig recht uniform. Das aktuelle Umbauprojekt des Genter Architektenduos Graux & Baeyens zeigt, wie man auf 150 Quadratmetern die Kurve kriegt.
Sozialneider sticheln gerne, Lofts dienten gemeinhin als Behausungen für Menschen mit überdimensioniertem Platzbedarf, dem nötigen Kleingeld zur Begleichung horrender Betriebskosten oder zur Inszenierung geschmäcklerischer Großzügigkeit. Doch bewohnte Fabriketagen sind mehr als Projektionsflächen für das längst verblasste Ideal einer Warhol'schen Wohn-Boheme. Architekten und Innenausstatter begreifen Lofts vor allem als Möglichkeitsräume. So veranschaulicht das von Basile Graux und Koen Baeyens geplante Loft M, wie der innovative Umgang mit der zwischen Boden und Decke aufgespannten Weite die Bedürfnisse und Ansprüche der Bauherrn auf besondere Weise erfüllen kann.
Solitär zwischen gestern und heute
Am Rande von Kortrijk, einer westflandrischen Kleinstadt unweit der belgisch-französischen Grenze, steht in einer blassen Brachlandschaft das alte Industriegebäude, das von außen gesehen aussieht wie hundert andere. Doch bereits der erste Blick hinter die rote Klinkerfassade lässt erahnen: Hier geht es nicht mit rechten Winkeln zu. Denn aus einem der vielen leer stehenden Räume des Solitärs entstand ein neues Zuhause für eine junge Familie, das mit viel Schwung die gewohnte Ästhetik großer Wohnlofts herausfordert.
Mit Schwung in die Gegenwart
Betritt man die Wohnung, wird schnell klar: Die original belassenen Elemente wie das rohe Mauerwerk, eine große Fensterfront und die Gewölbedecken bilden den optischen und konstruktiven Nenner mit dem üblichen Kanon klassischer Industriebauten. Der ursprüngliche Grundriss des zweigeschossigen Lofts umfasst einen großen, durch zwei mittig angeordnete Stahlpfeiler lose in zwei Hälften unterteilten Raum. Wie im Bestandsbau üblich, wurden zur Strukturierung der Grundfläche und Schaffung verschiedener Wohnbereiche Wände eingezogen – die allerdings alles, nur nicht orthogonal sind. Stattdessen findet sich eine avantgardistisch anmutende Häufung von Kurven.
Ausgangspunkt für die Entwurfsidee der geschwungenen Wände waren die zentralen Pfeiler, welche als tragende Elemente nicht entfernt oder verändert werden konnten. Um dennoch den Grundriss flexibel zu gestalten, ohne die lediglich auf einer Raumseite vorhandenen Fenster zu verbauen, entschieden die Architekten deshalb, die Wände um diese Pfeiler herum anzuordnen und so zwei weitere Raumgruppen zu schaffen. Das Ergebnis: Wie Wellen durchdringen die Wände das gesamte Loft, schaffen ungewöhnliche Blickwinkel und verhelfen der Wohnung so zu einer besonderen Dynamik, die eine ganz eigene, retro-futuristische Sprache spricht.
Räume im Raum
Durch die doppelte Geschosshöhe des Lofts war es möglich, eine zweite Ebene einzuziehen, wodurch sich weitere zweiundneunzig Quadratmeter Wohnfläche ergeben. Die so geschaffenen, zusätzlichen Räume der oberen Etage, die als Auskragungen fast schwebend in den offenen Wohnraum hereinragen, beherbergen Schlaf- und Badezimmer; in den unteren, konstruktiv versetzten Räumen befinden sich ein Arbeitszimmer, ein Wäscheraum und eine Kammer. Fast könnte man meinen, beim Anblick dieser ondulierende Fassade und der vorspringenden Volumen müsse einem schwindeln. Doch in der Totalen wird aus den scheinbar ungeordneten Flächen eine harmonische Bewegung, die dem Loft M eine geradezu erhabene Ruhe verleiht. Großzügige, schwarz gerahmte Panoramafenster schaffen dazu einen formalen Kontrast, ermöglichen interessante Sichtachsen innerhalb des Apartments und lenken den Blick immer wieder auf neue Bahnen.
Eine weiße Entscheidung
Doch die konkaven und konvexen Fronten dienen nicht nur als optische und strukturelle Trennungen der Rückzugsräume vom Wohnbereich. Denn wenn auch das durch die großflächigen Fenster einfallende Tageslicht die offene Küche und den angrenzenden Essplatz scheinbar in den Fokus rückt, ist es das gemächliche Spiel aus wanderndem Licht und flüchtenden Schatten auf den gekrümmten Oberflächen, das dem Loft seine Atmosphäre verleiht. Um diesen Effekt zu noch verstärken und eine möglichst große Streuung der Helligkeit auch im hinteren Teil der Wohnung zu erreichen, fiel die Entscheidung bei der Wahl der Farben für die Wände auf einen pigmentierten Kalkputz in einem matten Beige-Grau; weiße Polyurethan-Böden bewirken die visuelle Vereinigung von horizontalen und vertikalen Flächen und verleihen der sonst eher harten Fabrik-Ästhetik eine dezente, wohnliche Qualität.
Kurvendiskussion
Aus dem Mathematikunterricht wissen wir: Die kürzeste Verbindung zweier Punkte ist gerade. Im Alltag vermeidet man Umwege, indem man Abkürzungen geht. Doch wichtig ist nicht nur, dass man schnell ankommt, sondern auch, ob der Weg schön ist. Das belgische Umbauprojekt zeigt, wie die Abkehr von den Konventionen zu einer runden Sache werden kann. Und bringt vielleicht auch Skeptiker dazu, beim Anblick dieses kongenialen Entwurfs die Biege zu machen.
FOTOGRAFIE Luc Roymans Photography
Luc Roymans Photography
Projektarchitekten
Graux & Baeyens Architecten
Mehr Projekte
Gebaut für Wind und Wetter
Ferienhaus im schwedischen Hee von Studio Ellsinger

Ein Dorfhaus als Landsitz
Wohnumbau von Ricardo Azevedo in Portugal

Ein offenes Haus
Feministischer Wohnblock Illa Glòries von Cierto Estudio in Barcelona

Harte Schale, weicher Kern
Unkonventionelles Einfamilienhaus in Mexiko von Espacio 18 Arquitectura

Zwischen Bestand und Zukunft
Umbau einer Kölner Doppelhaushälfte durch das Architekturbüro Catalanoquiel

Offen für Neues
Nachhaltige Renovierung einer flämischen Fermette durch Hé! Architectuur

Baden unter Palmen
Studio Hatzenbichler gestaltet ein Wiener Loft mit Beton und Grünpflanzen

Maßgeschneidertes Refugium
Georg Kayser Studio verbindet in Barcelona Altbau-Charme mit modernem Design

Rückzugsort im Biosphärenreservat
MAFEU Architektur entwirft ein zukunftsfähiges Reetdachhaus im Spreewald

Im Dialog mit Le Corbusier
Umbau eines Apartments im Pariser Molitor-Gebäude von RREEL

Warschauer Retrofuturimus
Apartment mit markantem Raumteiler von Mistovia Studio

Trennung ohne Verluste
Ferienhaus im Miniformat auf Usedom von Keßler Plescher Architekten

Architektur auf der Höhe
Wohnhaus-Duo von Worrell Yeung im hügeligen New York

Architektur im Freien
Pool und Pergola von Marcel Architecten und Max Luciano Geldof in Belgien

California Cool
Mork-Ulnes Architects restaurieren das Creston House von Roger Lee in Berkeley

40 Quadratmeter Einsamkeit
Ländliches Ferienhaus von Extrarradio Estudio in Spanien

Von der Ruine zum Rückzugsort
Wertschätzender Umbau von Veinte Diezz Arquitectos in Mexiko

Zwischen Alt und Neu
Architect George erweitert Jahrhundertwendehaus in Sydney

Co-Living mit Geschichte
Umbau des historischen Metropol-Gebäudes von BEEF architekti in Bratislava

Aus dem Schlaf erwacht
Kern Architekten sanieren das Vöhlinschloss im Unterallgäu

Archäologie in Beton
Apartment-Transformation von Jorge Borondo und Ana Petra Moriyón in Madrid

Geordnete Offenheit
Umbau eines Einfamilienhauses von Max Luciano Geldof in Belgien

BAYERISCHES DUO
Zwei Wohnhäuser für drei Generationen von Buero Wagner am Starnberger See

Über den Dächern
Umbau einer Berliner Penthousewohnung von Christopher Sitzler

Schwebende Strukturen
Umbau eines maroden Wohnhauses von Bardo Arquitectura in Madrid

Camden Chic
An- und Umbau eines ehemaligen Künstlerateliers von McLaren.Excell

Aus Werkstatt wird Wohnraum
Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Londoner in der Lombardei
Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See

Zwischen Stroh und Stadt
Nachhaltiges Wohn- und Atelierhaus Karper in Brüssel von Hé! Architectuur

Flexibel zoniert
Apartment I in São Paulo von Luiz Solano
