Lesezeichen
Als „soziale Plastik“ bezeichnen KARO Architekten ihre Freiluftbibliothek im Magdeburger Stadtteil Salbke. Mit der Open-Air-Plattform, die sowohl zum Lesen und als Bücherspeicher als auch für kleine Veranstaltungen genutzt wird, ist in dem von Abwanderung und Leerstand gezeichneten Bezirk ein Ort entstanden, an dem sich Bürgerengagement als gebauter Raum materialisiert. Wie viel Überzeugungskraft schon jedes „normale“ Bauprojekt kostet, davon können fast alle Architekten ein Lied singen. Liest man die Projektgeschichte vom „Lesezeichen Salbke“, grenzt es fast an ein Wunder, dass dieses Projekt überhaupt umgesetzt wurde. Dabei ist es ein Vorzeigebeispiel, wie man eine städtische Brache sinnvoll nutzt, die Bürger sowohl in den Entwurfsprozess als auch in die langfristige Entwicklung des Projekts einbindet und damit einen im wahrsten Sinne des überstrapazierten Begriffes „nachhaltigen“ Ort schafft, einen identitätsstiftenden und Austausch fördernden Anker in einer erudierenden Gesellschaft. Und als wäre dies nicht schon Leistung genug, ist das Projekt auch noch ein architektonisches Kleinod, schaffen die Architekten hier eine neue Typologie und setzen ein städtebaulich markantes Zeichen.
Wie fängt es an?
Die Freiluftbibliothek füllt eine zentrale Leerstelle im Ortskern von Salbke. Früher gab es hier ein lebendiges Zentrum mit Läden, Café und Ortsbücherei. Nach dem Brand letzterer und mit der Abwanderung eines Großteils der Bevölkerung hielt der Leerstand Einzug, er liegt hier bei 80 Prozent. In einer Studie der Planer ging es zunächst darum, mittels skulpturhafter „Zeichen“ die brachliegenden Flächen wieder in das Bewusstsein der Anwohner zu rücken. Neben einem „Wasserzeichen“ am Abzweig Richtung Elbe markierte ein „Lesezeichen“ die beschriebene Fläche. Die Studie wurde von den Anwohnern zwar positiv aber auch kritisch aufgenommen, da kurzfristig keine Veränderung spürbar wurde. Im Rahmen des Experiments „Stadt auf Probe“ wurde anhand eines öffentlichen Entwurfsworkshops die Formfindung in einem offenen Prozess verhandelt. Danach wurde sie im Maßstab 1:1 mit Bierkisten eines lokalen Getränkehändlers auf der Fläche markiert und mit einem Lesefest mit Poetry Slam, Lesungen und Rockkonzert gefeiert.
Wie geht es weiter?
Durch den gesamten Prozess zogen sich solche Events, mit denen die Fortschritte des Projekts gefeiert wurden und sich so als positive Ereignisse ins Gedächtnis der Bewohner einschrieben. Zudem entstand aus dieser Aktion eine Stadtteilbibliothek in ehemaligen Ladenräumen, deren Bestand schnell auf eine Größe von inzwischen 25.000 Büchern anwuchs. Die dadurch entstehende Kontinuität trug zur Weiterentwicklung des Projektes bei. Als nächstes waren die Zuständigkeiten bei der Unterhaltung der Fläche zu klären. Im Gegensatz zu Einnahmen versprechenden Immobilien reißen sich die Ämter bekanntlich nicht um die Zuständigkeit für kostenintensiv zu pflegende Freiflächen (noch dazu so komplizierte wie eine Freiluftbibliothek, die sich weder als reine Grünfläche, noch als Spielplatz oder Parkplatz oder dergleichen definieren lässt). Erst die Aufnahme des Projekts in ein vom Bundesbauministerium finanziertes „Forschungssegment Freiräume“ und der Erwerb des Grundstücks von der Stadt Magdeburg konnte den Erfolg des Projektes sichern.
Wie sieht es aus?
Markantestes Element des „Lesezeichens“ ist seine Außenfassade. Sie besteht aus ehemaligen Fassadenelementen eines Kaufhauses im westfälischen Hamm (die auf Entwürfe Egon Eiermanns zurückgehen). Diese wurden von den Bürgern kurzerhand selbst erworben, da die Behörden immer mehr Bedenken ins Feld führten und den Kauf schließlich ablehnten. Zwei Wände aus den Kaufhauswaben grenzen die Grünfläche ein, eine bestehende Mauer wurde integriert. Die Innenseiten der Wände sind mit Holz verkleidet, sie bieten Platz für eine lange Sitzbank, grün verglaste Nischen, Hörinseln und eine MP3-Tankstelle. In kleinen, in die Wand eingelassenen Vitrinen liegen die Bücher aus, hier finden sich zudem Ankündigungen von lokalen Veranstaltungen. Die Freifläche selbst ist mit Rasen und holzgedeckten Podesten gestaltet und kann auch als Auditorium genutzt werden. Der mit einem großen „L“ wie „Lesen“ bezeichnete Kopfbau überdacht eine kleine Bühne und ist gleichzeitig gut sichtbares stadträumliches Zeichen – der Freiraumbibliothek und ihres vier Jahre dauernden Entstehungsprozesses.
FOTOGRAFIE Anja Schlamann
Anja Schlamann
Links