Mexikanische Metamorphose
Vom Lagergebäude zum Atelier
Architektur ist selten für die Ewigkeit. In den meisten Fällen beschreibt sie ohnehin nur einen Moment auf einer langen Zeitgeraden. Wie spannend das Durchleben räumlicher Verwandlungen sein kann, zeigen Intersticial Arquitectura im zentralmexikanischen Querétaro: Dort haben sie einen unscheinbaren Industriebau als atmosphärisches Atelierhaus wiederbelebt.
Es muss nicht immer nur Mexico City sein: Auch das 200 Kilometer entfernte Santiago de Querétaro ist derzeit reichlich in Bewegung. Das Zentrum mit seinen kolonialen Prachtbauten gehört seit 1996 zum Unesco-Weltkulturerbe – dennoch schwelgt man nicht in der Vergangenheit. Die 800.000-Einwohner-Stadt hat sich zu einem schnell wachsenden Zentrum für die IT-Branche entwickelt und vermeldet das zweithöchste Pro-Kopf-Einkommen Mexikos. Dass es hierbei durchaus auch auf eine architektonische Visitenkarte ankommt, sieht man in einem Gewerbeviertel am Rande der Altstadt.
Licht und Schatten
Das vor Ort ansässige Büro Intersticial Arquitectura hat sich dort einem im Verfall begriffenen Lagerhaus aus den Achtzigerjahren angenommen. „Die Herausforderung bestand darin, aus weniger mehr zu machen“, beschreibt Rodolfo Unda Cortés den Umbau zu einem Ateliergebäude, einer Casa Estudio, für einen Industriedesigner und eine Grafikerin. 2015 hat er zusammen mit Ian Pablo Amores Muguira das Büro Intersticial Arquitectura in Querétaro gegründet.
Die Architekten standen vor einer kniffligen Aufgabe: Auf der einen Seite sollten sie mit möglichst geringen Mitteln auskommen. Auf der anderen Seite galt es, dem unscheinbaren Zweckbau räumliche Qualitäten abzugewinnen. Die Lösung bestand in einer Addition von mehreren Patios, die gedämpftes Sonnenlicht ins Innere hineinholen und zugleich eine natürliche Klimatisierung des 160-Quadratmeter-Baus erlauben.
Ziegel und Beton
Der Aufbau folgt einer klaren Teilung: Das Erdgeschoss dient als Atelier, während die Wohnräume im neu hinzugefügten Obergeschoss untergebracht sind. Auf Farbe, die spätestens seit Luis Barragán ein wesentlicher Aspekt der mexikanischen Moderne ist, wurde hingegen verzichtet. Stattdessen setzen Wände aus Terrakotta-Ziegeln einen warmen Kontrast zu den betongefertigten Böden, Decken und Trägerelementen, auf denen die Stromleitungen freiliegend montiert sind. Die Dualität aus Tonziegeln und Sichtbeton zieht sich durch sämtliche Bereiche der Casa Estudio und verbindet sie zu einem stimmigen Ensemble.
Transparenz der Konstruktion
Bei den Ziegelwänden im Erdgeschoss handelt es sich um keine neue Intervention. Sie wurden lediglich vom Putz befreit. Um die räumliche Erweiterung dieses Arbeitsraumes lesbar zu machen, haben die Architekten den hinzugefügten Gebäudeteil mit quadratischen Terrakotta-Fliesen deutlich abgesetzt. Dieser Bereich definiert eine Pufferzone zwischen Innenraum und offenem PKW-Stellplatz, von der aus eine außenliegende Betontreppe hinauf ins Obergeschoss führt. Auch hier setzen Wände aus gemauerten Terrakotta-Ziegeln einen atmosphärischen Kontrapunkt zur sichtbar gelassenen Betonkonstruktion. „Es sind eindeutig die freiliegenden Materialien, die dem Gebäude seinen Charakter geben“, bringt Ian Pablo Amores Muguira die Wirkung auf den Punkt.
Vertiefte Oberflächen
Um Rauheit mit Wohnlichkeit in Einklang zu bringen, setzen hölzerne Einbauschränke und Regale warme Impulse. In den Wohnräumen werden Pflanzen von eigens angefertigten Paneelen aus geflochtenem spanischen Rohr (Junquillo) eingefasst. Dieses wurde aus dem Umland von Querétaro gewonnen und setzt ebenfalls einen wohnlichen Kontrast zur rauen Konstruktion aus Sichtbeton. Der Charme der Casa Estudio liegt genau an dieser Stelle: Sie changiert zwischen den Stilen und bringt das Einfache und Raffinierte, das Warme und Kalte sowie das Einladende und Schroffe auf stimmige Weise unter einen Hut.
FOTOGRAFIE Diego Cosme
Diego Cosme