Radikale Wohnwelt
Van Wassenhove-Haus von Juliaan Lampens bei Gent
Haus oder Höhle? Skulptur oder Bunker? Größenwahn eines Einzelnen oder bourgeoise Revolution? All diese Fragen stellen sich dem Betrachter des Van Wassenhove-Hauses, das vor über 40 Jahren von Juliaan Lampens als Spätwerk des Brutalismus inmitten eines lichten Waldstücks nahe Gent errichtet wurde. Ursprünglich für einen alleinstehenden Lehrer gebaut, kann das Haus nun an Wochenenden von Architekturliebhabern gemietet werden – und die Revolution von damals ist immer noch im vollen Gange.
Der Wendepunkt kam 1958: Der noch junge Architekt Juliaan Lampens besuchte die Brüsseler Weltausstellung und war beeindruckt von den radikalen Ansätzen der dort gezeigten Bauwerke – insbesondere des Philips-Pavillons von Le Corbusier. Für ihn bedeutete die Expo einen Einschnitt in die generelle Wahrnehmung von Architektur, und damit auch seine eigene.
Vorbild Bunker
Das Van Wassenhove-Haus wurde 1974 und damit weit nach der Blütezeit des Brutalismus errichtet. Bauherr war der Lehrer, passionierte Junggeselle und Kunstliebhaber Albert Van Wassenhove, der begeistert war von Lampens’ Architektursprache, die formal eine Mischung aus Bunker und Skulptur verkörperte. Für den jungen belgischen Planer waren neben den Ikonen der Moderne die befestigten Stellungen des Atlantikwalls eine der wichtigsten Referenzen für seinen eigenen Stil: „Die Verflechtung mit dem Meer und der Natur ist perfekt“, erklärte er seine Leidenschaft für die Architektur des 2. Weltkriegs. Von den Bauten übernahm er nicht nur den formalen Ausdruck, auch die Materialität und Verschlossenheit der Konstruktionen spielte eine große Rolle bei Lampens.
Schlüssige Einheit
Wie auch alle seine Vorgänger, wurde das Van Wassenhove-Haus vor Ort aus Beton gegossen. Einzige Materialergänzungen sind Holz und Glas. Bei der Wahl der Oberflächen ging es dem Architekten nicht darum auf Komfort zu verzichten, viel mehr wollte er eine schlüssige Einheit aus Form, Inhalt und Umgebung herstellen. Der brutal-skulpturale Ansatz der gefalteten Hülle aus Beton setzt sich konsequent im Inneren fort: klassische Raumkonstellationen und Trennwände sucht man hier vergebens. Sie wären der Plastizität seiner Baukunst nur in die Quere gekommen. Auch verschließt sich das Volumen zu drei seiner vier Seiten – allein zum Garten hin öffnet es sich mit einer vollverglasten Front genauso kompromisslos wie es sich andererseits verhüllt.
Imaginäre Topografie
Lampens’ Vision vom Wohnen, die von dem Bauherren Albert Van Wassenhove bedingungslos geteilt wurde, stellte sich gegen die Tradition gutbürgerlicher, flämischer Architektur. Das Innere wirkt wie eine betonierte Höhlenstruktur, die einer imaginären Topografie zu folgen scheint: Unterschiedlich hohe Ebenen bespielen den durchgehenden Raum und sind über ein Treppengeflecht verbunden. Ein Grundriss, der auch noch nach heutigen Maßstäben radikal wirkt: Alles hatte sich der formalen Idee unterzuordnen. Auch der Rückzugsraum Schlafzimmer wurde vom Architekten dekonstruiert: Eingebettet in eine runde, 1,5 Meter hohe Holzumwandung schiebt es sich über die Kante der obersten Ebene hinein in den Wohnraum. Intimität und Exponiertheit gehen bei Lampens’ Gebäuden Hand in Hand: Eine spannende Gradwanderung, die auch heute noch erlebt werden kann. Seit dem Tod des Bauherren im Jahr 2012 ist das Haus im Besitz des lokalen Kunstmuseums Dhondt-Dhaenens und steht seit kurzem für Kurzbesuche bereit.
FOTOGRAFIE Museum Dhondt-Dhaenens, Rik Vannevel
Museum Dhondt-Dhaenens, Rik Vannevel
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