Regenhut auf Schwäbisch
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Außen Kautschuk, innen Holz: Für eine Familie mit vier Kindern realisierte das Stuttgarter Architekturbüro Martenson und Nagel Theissen ein fünfgeschossiges Wohnhaus in Tübingen, das nicht nur mit seinem rhythmisch gegliederten Baukörper gekonnt „aus der Reihe tanzt“. Der Holzbau aus vorfabrizierten Bauelementen wurde von außen mit einer Membran aus Gummi überzogen, die auch vor dauerhafter Nässe sicheren Schutz verspricht. Überzeugen kann der Entwurf aber längst nicht nur mit seiner einprägsamen Gestalt. Die Baukosten von 330.000 Euro machen deutlich, dass gute Architektur auch erschwinglich ist.
Begonnen hat alles mit einem Hut. Keine Kopfbedeckung, wie sie sonst im Ländle üblich ist, sondern eher im hohen Norden auf rauer See zu finden ist. Southwestern Hat heißen die Kopfbedeckungen der Seefahrer, die mit einer Beschichtung aus Gummi für den Dauereinsatz bei Nässe geeignet sind. Dass auch der Sommer 2011 einer nicht enden wollenden Regentaufe ähneln würde, konnten die Architekten Björn Martenson, Sonja Nagel und Jan Theissen zu Baubeginn zwar nicht vorhersehen. Doch mit der wetterfesten Membran aus synthetischem Kautschuk, mit der sie die Fassade ihres Tübinger Wohnhauses überzogen haben, nahmen sie alle Eventualitäten längst vorweg. Die graue Farbigkeit des Hauses setzt dabei nicht nur einen kühlen Akzent inmitten des von Bäumen dicht umwachsenen Grundstücks. Sie lässt ebenso kaum erahnen, dass sich eine Konstruktion aus reinem Holz unter der matt schimmernden Hülle verbirgt.
Insgesamt 136 vorgefertigte Module kamen zum Einsatz, die für eine rasche Montage mit den nötigen Fälzen für Zimmermanns- und Schreinerarbeiten versehen wurden. Auch die Installation der Elektrik wurde frühzeitig bedacht, indem Bohrungen und Fräsungen für Kabel und Steckdosen in die hölzernen Bauteile bereits vorab eingefügt wurden. Mit einem Neigungswinkel von 70 Grad folgen die Dachschrägen nicht nur den örtlichen Auflagen. Der sich asymmetrisch nach oben verjüngende Baukörper sorgt dafür, dass den Nachbarn der Blick auf das mittelalterliche Tübinger Schloss erhalten bleibt – eine Bedingung, unter der sie in den Verkauf des 365 Quadratmeter großen Grundstücks erst eingewilligt haben.
Monochrom in Holz
Als ginge es darum, die Silhouette des Hauses zu betonen, sind die einzelnen Fassaden jeweils mit einer umlaufenden Kante umschlossen. Wie eine außen liegende Naht bei einem Kleidungsstück akzentuiert sie den Schnitt des Hauses und sorgt dafür, dass das Regenwasser effizient gesammelt und nach unten geleitet wird. Einen fast schwebenden Eindruck erhält der Bau durch seinen schmalen Sockel, der lediglich auf einem Drittel Breite der darüber liegenden Etagen den Boden berührt und sich tief in die Schräge des Baugrundes hinein schiebt. Auch die Wände verlaufen an diesem Übergang vom Untergeschoss zum leicht über den Boden gehobenen Erdgeschoss betont gerade und sind gegenüber dem auskragenden Dach, das die darüber liegenden Etagen umschließt, leicht zurückversetzt.
Wird die Materialität des Hauses durch die Gummierung von außen bewusst kaschiert, kommt die Wirkung des Holzes im Inneren umso stärker zur Geltung. In den Fluren, Treppenaufgängen sowie der zentralen Wohnküche wurden die Wände, Decke und Fußböden mit einem industriell gefertigten Brett-Sperrholz verkleidet. Um Kosten und Bauzeit zu reduzieren, wurden auch diese Paneele vorab angefertigt, während ihre Oberfläche zuerst geschmirgelt, dann gelaugt und anschließend mit Seifenwasser gewaschen wurde. Bleibt die helle Farbigkeit auf diese Weise dauerhaft erhalten, sorgt der monochrome Einsatz des Holzes für einen warmen, sinnlichen Raumeindruck, der dem Gebäude zugleich den Charakter eines begehbaren Möbels verleiht.
Flexible Weiternutzung
Vor allem die Wohnküche im Erdgeschoss erzeugt durch das Zusammenspiel zweier unterschiedlicher Höhen einen komplexen Raumeindruck und kann über einen zwölf Quadratmeter großen Balkon ins Freie erweitert werden. Als zentrale Schaltstelle des Hauses vermag sie zwischen dem Treppenaufgang, der vom Hauseingang im Untergeschoss hinaufführt, und den darüber liegenden Etagen zu vermitteln. Eine fünfstufige Treppe führt zu einer leicht erhöhten Plattform hinauf, wo sich das Geschehen im Wohnraum von einer gepolsterten Sitzecke aus verfolgen lässt, während die Treppe ihren Weg nach einer 90-Grad-Wende zum ersten Obergeschoss weiter fortsetzt. Die monochrome Farbigkeit des Treppenaufgangs wird lediglich durch Zickzack-artig verspannte Bänder aufgelockert, die den Einbau eines störenden Geländers überflüssig machen.
In der ersten Etage folgen die Schlafzimmer der Eltern sowie der zwei jüngeren Kinder, während die beiden übrigen Kinderzimmer im darüber liegenden Geschoss ihren Platz finden. Die Dachkammer in der dritten Etage, die durch ein Oberlicht mit Tageslicht versorgt wird, dient als multifunktionaler Raum zum Arbeiten oder als Rückzugsort. Flexibel zeigt sich das Gebäude ebenso in Bezug auf die zukünftige Größe der Familie, indem die 138 Quadratmeter große Wohnfläche in zwei separate Einheiten von 57 und 81 Quadratmetern unterteilt werden kann. Wird der untere Teil des Hauses dann wie bislang durch den Hauseingang im Untergeschoss betreten, steht bereits ein zweiter Eingang an der Rückseite des Hauses bereit. Dieser führt direkt in die erste Etage hinauf und wird durch eine außen liegende Treppe erschlossen, die aus dem schützenden Dach – pardon, dem tief ins Gesicht gezogenen Hut des Hauses – ins Freie hervortritt. Filmreife Auftritte sind auf dieser schwebenden Showtreppe schon jetzt garantiert.
FOTOGRAFIE Brigida González
Brigida González
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