Scharfe Tonne
Inszenierung des Alltags: rundes Wohnhaus in Japan.

Schluss mit dunklen Ecken: In der japanischen Präfektur Aichi haben die Architekten Kentaro Kurihara und Miho Iwatsuki alias Studio Velocity ein zylindrisches Wohnhaus realisiert. Durch die kluge Verknüpfung von Räumen, Ebenen und Funktionen werden die Rituale des Alltags nicht nur spannend inszeniert, sondern auch wirkungsvoll dem Trott entzogen.
Auch wenn runde Gebäude schnell in Silo-Verdacht geraten können: Schon Diogenes schätzte die Qualitäten einer zylindrischen Behausung, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Wie eine zeitgemäße Adaption gelingt, haben die jungen Architekten Kentaro Kurihara und Miho Iwatsuki von Studio Velocity nun vorgeführt. Rund 30 Kilometer südwestlich der japanischen Hafenstadt Nagoya erweiterten sie das Wohnhaus einer jungen Familie. Mit seinem runden Grundriss tritt der 110 Quadratmeter große Anbau nicht nur der strengen Kubatur des Altbaus entgegen. Die schwungvolle Gebäudehülle erlaubt zudem ein wechselvolles Spiel von Ein- und Ausblicken, als wären die Tonne des Diogenes und eine Bauhaus-Villa in einen Mixer geworfen worden.
Fließender Übergang
Die Verbindung zwischen innen und außen spielt in der japanischen Architektur seit jeher eine besondere Rolle. Doch auch das Definieren von Zwischenräumen ist ein zentrales Anliegen, dem Kentaro Kurihara und Miho Iwatsuki auf überaus raffinierte Weise nachgekommen sind. Sowohl das Schlafzimmer der Eltern, die beiden Kinderzimmer als auch das Badezimmer im Erdgeschoss verfügen über eigene Türen, die sich ebenerdig zum umliegenden Garten hin öffnen. Der Haupteingang des Hauses liegt in der ersten Etage und wird über eine außenliegende Treppe erschlossen. Wie das Gewinde einer Schraube bahnt sie sich an der runden Fassade ihren Weg empor.
Kommunikativer Wohnort
Nach dem Öffnen der Haustür betreten Bewohner und Besucher einen hellen, lichtdurchfluteten Raum. Wohnen, Kochen, Essen und Spielen sind in diesem Open Space gebündelt, der sich über die gesamte Etage erstreckt. Die Großzügigkeit macht nicht nur das zylindrische Raummaß erfahrbar. Sie lässt ebenso die Blicke hinauf in den weiß verputzten Deckenkegel gleiten, der wie die umlaufende Außenwand von Fenstern unterschiedlicher Größe durchbrochen wird. Um die Wahrnehmung des runden Raumes zu steigern, wurde auf Zwischenwände vollständig verzichtet.
Ein Raum, eine Treppe
Stattdessen ragen vier weiße Kuben aus dem Holzboden heraus und gliedern den Raum in einzelne Zonen. Auch wenn sich die Kuben in ihren Dimensionen stark voneinander unterscheiden, verfügen sie jeweils über mehrere Fenster sowie eine verglaste Eingangstür. Entfalten die rahmenlosen Fenster eine betont puristische Erscheinung, wirken die Türen mit ihren breiten, hölzernen Rahmen sowie ihren abgerundeten Oberkanten seltsam rustikal. Hinter jeder Tür führt eine Treppe in ein anderes Zimmer hinab. Der Clou dabei: Jeder Raum im Untergeschoss kann auf doppeltem Wege unabhängig voneinander erschlossen werden: Durch die Tür zum Garten sowie durch den eigenen Treppenaufgang zur ersten Etage.
Miniaturisiertes Dorf
Für einen atmosphärischen Wechsel sorgt die Wahl der Materialien. Während im Obergeschoss die weißen Wände und Decken mit dem hellen Holzboden kontrastieren, sind die Räume im Erdgeschoss komplett mit Holz verkleidet. Auch die Innenseiten der Treppenaufgänge folgen der hölzernen Materialität, sodass eine klare Trennung zwischen den Etagen aufgelöst wird. Die transparenten Türen und Fenster lassen Licht vom Obergeschoss in die Schlafzimmer fallen und umgekehrt. Wenn die Kinder abends lesen, leuchtet der Kubus über ihren Zimmern wie ein Haus inmitten eines miniaturisierten Dorfs.
Auch die Position der Fenster ist nicht zufällig. So öffnen sich Blicke aus den Treppenhäusern zum Himmel, zum Spielbereich oder dem Esszimmer. Umgekehrt kann von der Küche durch eines der Kindertreppenhäuser direkt auf den Sandkasten im Garten geschaut werden. Der Charme des Entwurfs von Kentaro Kurihara und Miho Iwatsuki liegt genau darin: Er verknüpft Menschen, Räume, Ebenen und Funktionen, ohne sie in einen Topf zu werfen. Die Rituale des Alltags werden damit nicht nur spannend inszeniert. Sie werden wirkungsvoll dem Trott entzogen.
FOTOGRAFIE Kentaro Kurihara
Kentaro Kurihara
Mehr Projekte
Palazzo mit Patina
Umbau eines apulischen Anwesens durch das Architekturbüro Valari

Alte Scheune, neues Leben
Historisches Gebäude in Tübingen wird zu modernem Wohnraum

Gebaut für Wind und Wetter
Ferienhaus im schwedischen Hee von Studio Ellsinger

Ein Dorfhaus als Landsitz
Wohnumbau von Ricardo Azevedo in Portugal

Ein offenes Haus
Feministischer Wohnblock Illa Glòries von Cierto Estudio in Barcelona

Harte Schale, weicher Kern
Unkonventionelles Einfamilienhaus in Mexiko von Espacio 18 Arquitectura

Zwischen Bestand und Zukunft
Umbau einer Kölner Doppelhaushälfte durch das Architekturbüro Catalanoquiel

Offen für Neues
Nachhaltige Renovierung einer flämischen Fermette durch Hé! Architectuur

Baden unter Palmen
Studio Hatzenbichler gestaltet ein Wiener Loft mit Beton und Grünpflanzen

Maßgeschneidertes Refugium
Georg Kayser Studio verbindet in Barcelona Altbau-Charme mit modernem Design

Rückzugsort im Biosphärenreservat
MAFEU Architektur entwirft ein zukunftsfähiges Reetdachhaus im Spreewald

Im Dialog mit Le Corbusier
Umbau eines Apartments im Pariser Molitor-Gebäude von RREEL

Warschauer Retrofuturimus
Apartment mit markantem Raumteiler von Mistovia Studio

Trennung ohne Verluste
Ferienhaus im Miniformat auf Usedom von Keßler Plescher Architekten

Architektur auf der Höhe
Wohnhaus-Duo von Worrell Yeung im hügeligen New York

Architektur im Freien
Pool und Pergola von Marcel Architecten und Max Luciano Geldof in Belgien

California Cool
Mork-Ulnes Architects restaurieren das Creston House von Roger Lee in Berkeley

40 Quadratmeter Einsamkeit
Ländliches Ferienhaus von Extrarradio Estudio in Spanien

Von der Ruine zum Rückzugsort
Wertschätzender Umbau von Veinte Diezz Arquitectos in Mexiko

Zwischen Alt und Neu
Architect George erweitert Jahrhundertwendehaus in Sydney

Co-Living mit Geschichte
Umbau des historischen Metropol-Gebäudes von BEEF architekti in Bratislava

Aus dem Schlaf erwacht
Kern Architekten sanieren das Vöhlinschloss im Unterallgäu

Archäologie in Beton
Apartment-Transformation von Jorge Borondo und Ana Petra Moriyón in Madrid

Geordnete Offenheit
Umbau eines Einfamilienhauses von Max Luciano Geldof in Belgien

BAYERISCHES DUO
Zwei Wohnhäuser für drei Generationen von Buero Wagner am Starnberger See

Über den Dächern
Umbau einer Berliner Penthousewohnung von Christopher Sitzler

Schwebende Strukturen
Umbau eines maroden Wohnhauses von Bardo Arquitectura in Madrid

Camden Chic
An- und Umbau eines ehemaligen Künstlerateliers von McLaren.Excell

Aus Werkstatt wird Wohnraum
Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Londoner in der Lombardei
Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See
