Sinuskurve mit Weitblick
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Sie überqueren nicht nur Flüsse, Straßen oder Schienen: Brücken sind Nadelöhre, die ihre Passanten automatisch ins Schweben versetzen – ein Umstand, der auf Fußgängerbrücken, wo keine Verkehrsgeräusche die Sinneseindrücke verfremden, umso mehr gesteigert wird. Dass die Verbindung zweier Punkte nicht nur räumliche Qualitäten entfalten kann, zeigt die Fußgängerbrücke über den Fluss Carpinteira, die der Lissaboner Architekt João Luis Carrilho da Graça in der portugiesischen Kleinstadt Covilhã realisierte. Diese verbindet eine kraftvolle, skulpturale Gestalt mit einer Eigenschaft, die auf Brücken bislang selten zu finden war: Wohnlichkeit.
Es ist ein Umweg, der sich auszahlt: Anstatt die Fußgängerbrücke über den Fluss Carpinteira als effiziente Gerade zu formen, gab ihr der Architekt João Luis Carrilho da Graça den Schwung einer gestreckten Sinuskurve. In 52 Metern Höhe über dem Flusslauf vollzieht die Brücke an den beiden mittleren ihrer insgesamt vier Pylone eine Biegung zur rechten und anschließend zu linken Seite – unabhängig von der Richtung, von der aus das 220 Meter lange Bauwerk betreten wird. Auch wenn die Passanten aufgrund dieser Bauweise rund 30 Meter zusätzlichen Wegs zurücklegen müssen, ist die gefühlte Distanz erheblich geringer. Denn beim Betreten der Brücke blicken diese nicht in einen endlosen Schacht hinein, sondern können den Weg in drei überschaubaren Teilstücken von jeweils 70 Metern Länge passieren.
Visuelle Orientierung
Für Abwechslung während des Übergangs sorgt nicht nur die doppelte Biegung des Brückenverlaufs, sondern ebenso dessen Ausrichtung zur Umgebung. Das Bauwerk, das Ende 2009 nach sechs Jahren Bau- und Planungszeit fertiggestellt wurde, verbindet erstmals die beiden zuvor getrennten Teile der 53.000 Einwohner zählenden Stadt Covilhã, die nun auch ohne Auto in wenigen Gehminuten voneinander erreichbar sind. João Luis Carrilho da Graça inszenierte die Passage wie ein Schauspiel in drei Akten. Ist das mittlere Teilstück, das die beiden zentralen Pylone verbindet, orthogonal zum Lauf des Flusses Carpinteira ausgerichtet, fungieren die beiden seitlichen Teilstücke je nach Laufrichtung als Prolog oder Epilog und verweisen in ihrer Ausrichtung auf die jeweils gegenüberliegenden Enden.
Die Passanten erblicken auf diese Weise schon beim Betreten der Brücke ihr späteres Ziel, während die beiden seitlichen „Schlenker“, die ihnen quasi als „Hindernis“ auf den Weg gegeben werden, die topografische Besonderheit von Covilhã eindrucksvoll in Szene zu setzen: Erhebt sich auf der Westseite der Brücke der hügelige Naturpark Serra da Estrela, öffnet sich nach Osten die weite Ebene der Region Cova da Beira. Als eindrucksvolles Panorama reicht der Blick bis weit in die Landschaft hinein, ohne dass störende Gebäude oder Fahrzeuge die Wirkung des Naturschauspiels beeinträchtigen würden.
Illusion von Schatten
Sinn für Qualität bewies João Luis Carrilho da Graça nicht nur bei den feinen Proportionen seiner aus Beton errichteten Brücke. Deren Unterseite sowie die Seitenflächen der beiden mittleren Pylone wurden nicht wie das übrige Bauwerk in Weiß, sondern in schwarzem Putz ausgeführt. Die Brücke erhält durch diese Illusion von Schatten eine eindrucksvolle grafische Gestalt, die sich als schmales Band über das Flusstal hinweg spannt. Folgen die mittleren Pylone in ihrer Breite und Tiefe den Dimensionen der Brücke, brechen die beiden äußeren Pylone die orthogonale Strenge des Bauwerks durch ihre zylindrische, säulenartige Ausformung. Eine Wendeltreppe, die sich an der Außenseite des südlichsten Pylons emporschraubt, verleiht der Brücke eine beinahe surrealistische Anmutung.
Raffiniert zeigen sich ebenso die „inneren Werte“ der Brücke: Indem diese vollständig mit Paneelen aus Holz verkleidet wurde, erhält sie einen warmen, beinahe wohnlichen Charakter. Statt abweisende Kälte dominiert ein angenehmer, haptischer Sinneseindruck, dessen Wirkung in der Nacht noch gesteigert wird. Entlang der Brüstungen kommt dann eine indirekte Beleuchtung zum Einsatz, die sich in Bodennähe als durchgehendes Band über die gesamte Länge der Brücke zieht und die Aufmerksamkeit förmlich auf das Bauwerk lenkt. Durch das Ausleuchten dunkler Ecken bleibt die Brücke auch nach dem Einsetzen der Dämmerung sicher passierbar, während Vandalismus nicht mit erhobenem Zeigefinger oder durch Androhung von Strafen entgegengewirkt wird, sondern schlichtweg durch die Aufenthaltsqualität des Orts. Ein Beispiel, das auch in anderen Kommunen schnellstens Schule machen sollte.
Ein Eindruck von den räumlichen Qualitäten der Fußgängerbrücke von Covilhã vermittelt ein Film, den der Lissaboner Fotograf und Dokumentarfilmer Vitor Gabriel im Herbst 2010 realisierte. Weiter zum Film
FOTOGRAFIE Vitor Gabriel
Vitor Gabriel
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