Spiel der Kontraste
Atelier ST entwirft ein Wohnhaus in Leipzig

In unmittelbarer Nähe zum Wald, nur einen Steinwurf von Leipzig entfernt, gestaltete das Architekturbüro Atelier ST einen Neubau, der die typische Bauweise der Umgebung aufgreift und doch neu interpretiert. Das Ergebnis ist ein archetypisches Wohnhaus, in dem rauer Sichtbeton, Bogentüren und kreisrunde Fenster harmonisch aufeinandertreffen.
Silvia Schellenberg-Thaut stammt aus Leipzig, Sebastian Thaut aus Zwickau. Kennengelernt haben sich die beiden während ihres Architekturstudiums an der Hochschule in Reichenbach im Vogtland. Bereits 2005, nach weniger als fünf Jahren Berufserfahrung, gründeten sie ihr gemeinsames Architekturbüro Atelier ST. „Wir waren Mitte zwanzig, als wir uns selbstständig machten“, erzählt Sebastian Thaut, „Heute würde ich sagen, es war mehr oder weniger naiv, doch der Wille, etwas Eigenes zu machen, war einfach schon recht früh da.“ Der Schritt war ein Erfolg – und zwar einer mit Substanz. Seither schafft das Paar bei seinen Projekten immer wieder das Kunststück, Historisches und Zeitgenössisches zusammenzubringen sowie das Bekannte in etwas Eigenes zu übersetzen, ohne dabei den Kontext aus den Augen zu verlieren.
Aus eins mach zwei
Der neueste Streich des Duos fand nur wenige Kilometer vom eigenen Büro entfernt statt: in Plaußig-Portitz, einem grünen Stadtteil im Nordosten Leipzigs. „Uns erreichte damals ein Brief der jetzigen Hausbewohner, mit der Frage, ob wir an dem Projekt interessiert wären“, erinnert sich Thaut. „Er war so nett geschrieben, wir mussten sofort antworten.“ Das besagte Grundstück befand sich in unmittelbarer Nähe zum Wald und war gerahmt von Obstbäumen, Wiesen und Feldern. Vor allem aber lag es inmitten einer kleinteiligen Siedlung aus jenen Mehrfamilienhäusern, die dem Neubauvorhaben den formalen Rahmen gaben. Gemäß dem Motto „doppelt hält besser“ übersetzten die Architekt*innen die vorherrschende Formensprache des Ortes in ein giebelständiges Wohnhaus, das nicht nur aus einem, sondern aus zwei zueinander versetzten, schmalen Baukörpern besteht. Es ist sozusagen ein Augenzwinkern in Richtung der Doppelhäuser dieser Umgebung, ein Aufgreifen des Bestehenden, das sich nun als etwas Eigenständiges abhebt.
Die Natur im Fokus
Noch wichtiger allerdings war die Verbindung des Hauses zur Natur: „Wir wollten die Rauigkeit des dunklen Laubwalds auf die Fassade übertragen und entschieden uns für eine bretterschalenartige Verkleidung aus Beton“, so Thaut. Doch auch die Fenster und Türen wurden genau so platziert, dass sie den umliegenden Wald und Obstgarten in den Fokus nehmen. Ganz bewusst entschied sich das Architektenpaar gegen das klassische rechtwinklige Fenster- und Türen-Format. Stattdessen zeigen sich jegliche Öffnungen mit halbkreisförmigen Bögen. Eine Maßnahme, um der „harten äußeren Schale“ etwas Weiches zu verleihen und im Inneren „einen geheimnisvollen Höhlenraum, der ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt, zu schaffen“, erklären die Architekt*innen. So verbinden bogenförmige Durchgänge die Innenräume miteinander, wobei leicht versetzte Ebenen die Wohnbereiche auf subtile Art gliedern, ohne ihre Offenheit zu stören. Eine weit geschwungene Bogentür markiert den Eingang des Hauses. Den Türgriff dafür, einen großen, runden Knopf aus Eiche, gestaltete der Architekt selbst. Er war ein Geschenk an die Hausherr*innen. „Das geht bestimmt schnell, dachte ich mir“, erinnert sich Thaut schmunzelnd. „Und dann saß ich doch drei bis vier Tage in der Werkstatt in der Waldorfschule meines Sohns und schnitzte und ölte, bis ich zufrieden war.“
Vom Foyer führt ein schmaler Gang in den offenen Koch- und Essbereich, der sich durch ein großes Fenster zum Garten öffnet. Von dort aus gelangt man in das leicht erhöhte Wohnzimmer, das sich bis unter das Dach öffnet und mit seinem eingelassenen Kamin bereits zum beliebten Rückzugsort des Hauses avanciert ist. Im oberen Stockwerk liegen, ebenfalls durch leicht versetzte Höhenebenen gegliedert, die privaten Räume. An das Hauptschlafzimmer mit Ankleide- und Badezimmer auf der Zwischenebene schließen sich ein Kinderzimmer und ein Gästezimmer mit eigenem Bad sowie ein Büro an.
Natürliche Farben und Materialien
Dabei ist die gesamte Farb- und Materialpalette im Haus eher schlicht, nahezu bescheiden, und im Einklang mit der Umgebung gestaltet. Die Innenwände und Decken wurden mit einem warmen, feinstrukturierten Lehmputz versehen, der die lichten Räume in ein mattes Graubeige taucht. Im Erdgeschoss prägt ein grün schimmernder Naturstein die Böden, der bei den maßgefertigten Badmöbeln und in den Duschen wieder aufgegriffen wird. Den Übergang zum privaten Bereich markiert naturgeöltes Eichenparkett, das sich von der Treppe durch das obere Stockwerk zieht. Wie das Badmobiliar ist auch ein Großteil der dezent und unaufdringlich gestalteten Einbauten selbst entworfen. Dazwischen tummeln sich ausgesuchte Klassiker und skandinavische Designikonen: Leuchten von Grau und Fritz Hansen, Freischwinger von Thonet oder der skulpturale Wiggle-Chair von Frank O. Gehry für Vitra. „Wir wollten eine Atmosphäre kreieren, in der sich die Bewohner jeden Tag wohlfühlen“, so Thaut. Bestätigungen, dass dies gelungen ist, erhalten die Architekt*innen nach wie vor jeden Tag per SMS.
FOTOGRAFIE Clemens Poloczek
Clemens Poloczek
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