Unsere feine Farm
Landhaus in Sussex mit überraschend urbanem Interieur
Außen Backsteinburg, innen Sichtbetonästhetik. Zwischen den sanften, grünen Hügeln des South Downs National Parks im Süden Englands hat der britische Architekt Adam Richards ein Wohnhaus für sich und seine Familie gebaut – inspiriert von seinem Lieblingsfilm. Eine Erkundungstour durch die Räume wird zur Reise ins Innenleben des Architekten.
Wer wissen möchte, woher Adam Richards seine Ideen nimmt, braucht nur einen Blick auf die Coffee Table Books in seinem Wohnzimmer zu werfen. Dort versammeln sich verschiedene Vorbilder und Inspirationsquellen in Form von dekorativ arrangierten Bildbänden. Eine Monografie über den russischen Regisseur Andrei Tarkowski macht es sich auf der Polsterbank neben Büchern über den amerikanischen Künstler Cy Twombly, den englischen Architekten und Dramatiker Sir John Vanbrugh oder den italienischen Baumeister Andrea Palladio bequem. Begibt man sich auf Spurensuche, so kann man in Richards’ Neubau namens Nithurst Farm allerhand Referenzen und architektonische Filmzitate entdecken.
Filmreife Raumfolge
Der Weg von der Eingangstür des Hauses zum Wohnzimmer im Erdgeschoss soll, laut Adam Richards, an die Reise erinnern, die drei Männer in Tarkowskis Film Stalker (1979) unternehmen. Sie bewegen sich durch die „Zone“, eine von Zerstörung und Verfall geprägte Landschaft, die aufgrund eines mysteriösen Ereignisses in der Vergangenheit zum Sperrgebiet wurde. Ihr Ziel ist es, das sogenannte „Zimmer“ zu finden, einen Ort, an dem Wünsche in Erfüllung gehen. Mit der bedrohlichen Endzeitkulisse und den größtenteils überfluteten Abbruchhäusern der „Zone“ hat das neue Zuhause des Architekten zum Glück nicht allzu viel gemein. Vom Film inspiriert wurde vor allem die spannende, atmosphärische Raumfolge.
Spiel mit den Proportionen
In Tarkowskis Stalker müssen die Protagonisten erst durch einen finsteren und engen Tunnel laufen, bevor sie in eine helle, riesige Halle gelangen, die schließlich zum „wundertätigen Zimmer“ führen soll. Auch Richards spielt mit Raumproportionen und dem Wechsel von Dunkelheit zu Helligkeit. Seine Nithurst Farm wird durch eine unscheinbare Tür an der Seite des Gebäudes betreten. Der Weg führt zunächst durch einen eher beengten Eingangsbereich ohne Fenster und von dort in den Hauptraum des Hauses mit Küche und Essplätzen, dessen Deckenhöhe von viereinhalb Metern durch die vom Architekten entwickelte Dramaturgie beim Eintreten noch beeindruckender wirkt. Dieser Kunstgriff kommt auch beim Bau von Gotteshäusern oft zum Einsatz, um das Hauptschiff einer Kirche – nach dem Durchqueren eines kleinen, niedrigen Vorraums – umso imposanter erscheinen zu lassen.
Ankunft im „Raum der Wünsche“
Am anderen Ende des hallenartigen Hauptraums angekommen, geht es treppauf und durch einen dunklen, engen, verwinkelten Korridor – wie in Tarkowskis „Zone“ gibt es auch in Richards’ Grundriss kein Geradeaus. Das Ziel dieser Reise: ein von Tageslicht durchfluteter Salon, in dem die Wohnwünsche des Architekten Wirklichkeit wurden. Anders als beim geheimnisvollen „Zimmer“ im Film Stalker steckte hinter der Wunscherfüllung jedoch kein Wunder, sondern viel Arbeit. Von den ersten Ideen bis zur Fertigstellung des Projekts sind insgesamt zehn Jahre vergangen. Nun ist Adam Richards’ persönlicher „Raum der Wünsche“ ein Ort, an dem er seine Interessen und Sammelleidenschaften ausleben kann: Zeitgenössische Kunst trifft auf historische Wandteppiche, Keramiken, antike Heiligenfiguren und Vintage-Elektronik. Nach Aussage des Architekten repräsentiert die Nithurst Farm auch „eine Reise durch Zeit und Raum in Richtung einer spirituellen Heimkehr.“
Der Architekt als Filmfan
Beim Gang durch das dreigeschossige Wohnhaus entdeckt man noch weitere Hinweise darauf, dass Richards wohl ein Tarkowski-Fan sein muss. Da sind die sechs Boxen aus Sichtbeton im Hauptraum des Hauses, die der Architekt „Türme“ nennt, weil sie den Betontürmen in der großen Halle des Stalker-Filmsets nachempfunden wurden. An die ersten Einstellungen des Films erinnert aber auch die schmale Flügeltür, die zum Schlafbereich führt. Selbst die Bugholzstühle von Thonet rund um den Frühstückstisch scheinen auf einen Kaffeehausstuhl verweisen zu wollen, der in Stalker zu sehen ist. Beim Betrachten der Sammlung alter Keramikisolatoren von ausgedienten Telegrafenmasten, die auf dem Kaminsims steht, kommen die umgeknickten Telegrafenmasten in Tarkowskis „Zone“ in den Sinn. Über dem Kamin hängt eine großformatige Fotografie, eine Arbeit des Fotografen Simon Norfolk, die zwar einen Teilchenbeschleuniger zeigt, aber auch dem Setdesign und den Filmplakaten des Tarkowski-Meisterwerks Solaris (1972) verdächtig ähnlich sieht.
Wohnlicher Mix
Nithurst Farm ist natürlich nicht nur eine Hommage an den berühmten russischen Filmemacher. Das Haus sollte in erster Linie ein neues Zuhause für Adam Richards, seine Frau Jessica und ihre drei Kinder sein. Daher gibt es auch ein Spielzimmer im Erdgeschoss und mehrere Kinderzimmer im ersten Obergeschoss. Mit geölten Kiefernholzdielen, Sisalteppichen sowie farbenfrohen Textilien und Möbeln sorgte der Architekt für Wärme und Wohnlichkeit in den kargen Sichtbetonräumen. Auch die Wohnzimmereinrichtung wirkt – trotz des eher verkopften Designkonzepts – durchaus gemütlich und familienfreundlich. Den charmant zusammengewürfelten Mix aus Antiquitäten, Ikea-Möbeln, Designklassikern und Urlaubsmitbringseln könnte man „eklektisch“ nennen.
Malerische Umgebung
Wer sich in den modernen Sichtbetonräumen der Nithurst Farm aufhält, die ebenso gut in ein urbanes Townhouse passen würden, könnte fast vergessen, dass dieser Neubau inmitten der ländlichen Umgebung eines Nationalparks steht. Wenn da nicht immer wieder diese Ausblicke wären – teils durch bodentiefe Fenster, teils durch kleinere Öffnungen: Man blickt auf weite Wälder, grüne Felder, Schafe und Schäfchenwolken. Es ist eine Kulisse, die viel mehr an die Idylle englischer Landschaftsgemälde erinnert als an das trostlose Bild der „Zone“, das Tarkowski in seinem Film gemalt hat.
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FOTOGRAFIE Brotherton-Lock
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