Vom Reihen und Schrauben
Respekt für den Bestand: Wohnhausanbau von Maccreanor Lavington im Londoner Stadtteil St Pancras.

Ein Reihenendhaus in London? Wer da an Ziegelfassaden und weiße Fensterrahmen denkt, liegt bei diesem Umbauprojekt im Stadtteil St Pancras nicht ganz richtig. Denn die Architekten vom Büro Maccreanor Lavington haben keines der typischen Victorian terraces erweitert. Ganz falsch ist die Assoziation allerdings auch nicht, ist das Bestandsgebäude doch eine modernistische Interpretation der Londoner Haustypologie schlechthin. Und der aktuelle Anbau dreht die Referenz-Schraube noch eine Umdrehung weiter.
Zwei lange Hauszeilen im rechten Winkel zueinander, die sich zwar treffen, aber an der Straße eine leere Ecke lassen: Das war die Ausgangssituation für dieses Erweiterungsprojekt. Die Garage, die noch auf dem Grundstück stand, ließen Maccreanor Lavington abreißen, um Platz für den Anbau und eine Terrasse zu schaffen. 1967 hatte Architekt Robert Bailie die Anlage für die St Pancras Housing Association errichtet und dafür die traditionellen, vertikalen Reihenhäuser zu einer horizontalen Zeile mit Flachdach verschmolzen. Die einzelnen Wohneinheiten sind lediglich durch leicht vorstehende Wandscheiben aus Backstein voneinander getrennt.
Qualitätsverständnis
Bauherr des Umbauprojekts ist Richard Lavington selbst, einer der beiden Gründer von Maccreanor Lavington, gemeinsam mit seiner Frau Kay Hughes, die die Gestaltungsabteilung der Olympischen Spiele 2012 leitete und ebenfalls ein eigenes Architekturbüro namens Khaa führt. Verständnis für die Qualitäten des Bestands darf man also voraussetzen. Trotzdem dauerte es neun Jahre, bis die lokale Planungsbehörde die Genehmigung für die Erweiterung des Reihenendhauses erteilte. Auf der zusätzlichen Fläche gibt es im Erdgeschoss jetzt ein Wohnzimmer, im Obergeschoss zwei Schlafzimmer. Im Zuge der Baumaßnahmen wurde auch der Altbau neu organisiert: Im EG sind jetzt Küche mit Essplatz, WC und ein Arbeitszimmer untergebracht, im OG ebenfalls ein Arbeitsplatz, ein weiteres Schlafzimmer und zwei Bäder. Die gesamte Wohnfläche beträgt nun 139 Quadratmeter, der Umbau kostete 232.000 Pfund.
Dem Anbau gelingt etwas, was leider keineswegs selbstverständlich ist, wenn historische Bauten erweitert werden: Er balanciert erfolgreich zwischen Unterordnung und Eigenständigkeit. Zum Beispiel haben Maccreanor Lavington die Höhe der Zeile aufgenommen, den Neubau jedoch in der Flucht etwas zurückgesetzt. Zudem führt die Fassade wesentliche Elemente des Altbaus fort: die horizontale Gliederung, die Fensterbänder und die übergreifende Attika. Hier wird weitergebaut und nicht brachial auf Kontraste gesetzt.
Materialsprung
Die zeitgenössischen Setzungen sind subtil: Die Proportionen der Öffnungen unterscheiden sich, die Neubau-Fenster sind geringfügig höher als die im Bestand. Die Rahmen sind schmaler, die Attika kommt weniger weit vor. Und natürlich die Farbe: Anstelle der klassisch-weißen Profile sind die neuen Fenster lehmfarben. Den größten Sprung wagten die Architekten beim Material: Die Erweiterung ist ein Holzbau. Auch bei der Fassadenverkleidung setzten sie auf Holz, genauer auf vorbehandeltes Lärchenholz. Sie näherten sich in der Farbe aber der Fassade des Originals an. „Das Ziel war, das Bestandsgebäude in Ton und Charakter zu ergänzen, dabei aber eine ganz andere Art von Raum zu schaffen“, so die Bauherrn und Architekten.
Angenehm stark
Innen beeindruckt der Anbau vor allem durch das großzügige und lichte Raumgefühl im Erdgeschoss. Große Fensterflächen auf zwei Seiten, Holzböden, sperrholzverkleidete Wände und die sichtbar gelassene Holzkonstruktion prägen das Wohnzimmer – das ist alles ganz simpel, aber stark in der Wirkung und angenehm in den Proportionen. Orangene Vorhänge aus Kvadrat-Stoff und ein orangenes Sideboard setzen Akzente. Zum Altbau führt eine raumhohe Öffnung, dahinter liegt die Küche, die mit gelben Fronten ebenfalls Farbe bekennt und ein Fenster zum Garten hat. Zur Straße liegt im Erdgeschoss noch ein helles Arbeitszimmer mit maßgefertigten Einbaumöbeln.
Die leere Ecke ist nun gefüllt, die modernistischen Zeilen haben einen Abschluss, einen Kopf bekommen. Er erweist dem Bestand Respekt, ohne sich anzubiedern und seine Zeitgenossenschaft zu verleugnen. Und auch wenn Maccreanor Lavingtons Neubau ganz gegenwärtig erscheint, ist er über zwei Zeitsprünge doch mit dem klassischen Londoner Reihenhaus verbunden.
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FOTOGRAFIE Tim Crocker
Tim Crocker
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