Wohngemeinschaft mit Feige
Wie ein italienisches Bauernhaus zum „Baumhaus“ wurde
In der Tiefebene Norditaliens hat ein Tomatenmogul ein altes Bauernhaus in ein über zehn Meter hohes Terrarium verwandelt. Permanente Bewohnerin ist Alma, eine australische Feige, die mit ihren Ansprüchen maßgeblich die Modernisierung beeinflusste. Das Ergebnis ist ein vom natürlichen Licht geflutetes Atrium für den Baum, um den herum sich die sieben Räume bis hoch zur Krone stapeln.
1993 stellte der Biologe und Harvard-Professor Edward O. Wilson ein Hypothese auf: Dem Menschen sei eine emotionale Verbundenheit zur Natur angeboren. Er benannte das Phänomen „Biophilie“ und erklärte damit, warum uns im Angesicht von blühenden Gärten, dichtem Dschungel oder satten Wiesen geradezu das Herz aufgeht. Auch spätere Forschungsergebnisse haben belegt, dass ein regelmäßiger Kontakt mit natürlichem Grün – von der Topfpflanze bis zur Parkanlage – beruhigend und stressabbauend wirkt. In einem traditionellen italienischen Bauernhaus außerhalb der Stadt Parma soll deshalb eine ganz besondere Mitbewohnerin für Entspannung sorgen: „Alma“ ist eine 60 Jahre alte Ficus Australis-Pflanze, die sich im Herzen des Hauses über zehn Meter bis zur Dachschräge reckt.
Haus Mutti für Baum Alma
Die australische Feige „Alma“ gehört Francesco Mutti, dem CEO des gleichnamigen italienischen Herstellers von Tomatenprodukten. Er beauftragte das Designbüro Carlo Ratti Associati (CRA) und den Architekten Italo Rota damit, aus einem historischen Landhaus mitten in der einsamen Landschaft ein modernes Gebäude für eine Wohngemeinschaft bestehend aus einem Baum und einigen Menschen zu machen. „Der italienische Architekt Carlo Scarpa sagte einmal: ‚Wenn du die Wahl zwischen einem Baum und einem Haus hast, wähle den Baum.‘ Ich schließe mich seiner Meinung an, denke aber, dass wir noch einen Schritt weiter gehen und beide zusammenbringen können", erläutert Carlo Ratti. Im Fall des alten Bauernhauses bedeutete das eine konsequente Umgestaltung. An der Südseite wurde eine zehn Meter hohe Glaswand installiert, hinter der der australische Feigenbaum bei maximalem Sonnenlicht gut geschützt steht. Fenster und Dach können automatisch geöffnet und geschlossen werden, um Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu regeln.
Treppenhaus für Wipfelstürmer
Allein durch Volumen und Raumbedarf wird der Baum zum Zentrum des Hauses. Um die Feige herum wurden alle anderen Räume und Funktionsbereiche terrassenförmig angelegt. Drei Zimmer liegen unter der Eingangsebene, drei darüber. Wer der Treppe nach unten folgt, landet im Hauptwohnbereich rund um die Basis des Baumes. Wer in die oberen Etagen hinaufsteigt, begibt sich auf eine Reise gen Wipfel. Die Bedürfnisse der Flora haben auch den Bewohner*innen besondere Lebensumstände beschert.
Neben dem Baum ist im Atrium die Küche untergebracht, die durch die Fensterfassade in die Wiese vor dem Haus überzugehen scheint. Dahinter liegt die Landschaft der Region Emilia-Romagna rund um die Stadt Parma , die zwar fruchtbar und bevölkerungsreich ist, aber als Teil der norditalienischen Po-Ebene durch große, flache Felder bestimmt ist. Ausblick ist in dieser Gegend immer auch Weitblick. „In einer flachen Landschaft, in der es keine Berge, Hügel oder Seen gibt, sondern nur Ebenen, zeigt sich die Natur in einem wunderschönen Licht, das sich im Laufe des Tages verändert. Es verleiht der Atmosphäre eine bezaubernde, fast filmähnliche Qualität", sagt der Architekt Italo Rota. Genießen können die Bewohner*innen das Panorama an einem Tisch, gefertigt aus einem einzigen, längs geschnittenen Stamm, der sich über die ganze Fensterfront erstreckt.
Ein Baum als Maßstab
Dass im Mutti-Haus mit einem Baum gewohnt wird, spiegelt sich auch bei den inneren Werten der Architektur wider. Bei der Planung wurde viel Wert auf die Wahl ökologischer, nachhaltiger und natürlicher Materialien gelegt. Die Böden der Innenräume etwa wurden mit einem Kompositmaterial ausgeführt, das Erde und Orangenschalen enthält. Die Wirkung des Baumes auf den Raum hingegen greift die Architektur in ihren Gesten und Geometrien auf. Gitterförmig durchbrochene Ziegelwände vor den Fenstern erinnern an den Schattenwurf natürlicher Zweige, der rote Cortenstahl und der graue Betonboden reflektieren die natürlichen Nuancen von Erde und Steinen. „Greenary“ haben Mutti und die Architekt*innen das Haus liebevoll getauft – als Kofferwort, das sich aus Green (Grün) und Granary (Kornspeicher) zusammensetzt. „Mit dem Greenary versuchen wir, uns eine neue Wohnlandschaft vorzustellen, die auf der Natur und ihrem Rhythmus aufbaut“, erklärt Carlo Ratti. Als er und sein Team einen zehn Meter großen Baum zum Modulor für den Wohnbereich machten, schufen sie eine eigenwillige Harmonie: zwischen den natürlichen Voraussetzungen und dem vom Menschen errichteten Bauwerk.
FOTOGRAFIE Delfino Sisto Legnani & Alessandro Saletta
Delfino Sisto Legnani & Alessandro Saletta