86. Autosalon in Genf: auf der letzten Insel der Welt
Über eine Branche, die mit einem Bein nach vorne und mit einem zur Seite geht.
Wenn der Genfer Autosalon ruft, dann werden Imagefilme gedreht, Melodien komponiert, Key-Visuals entwickelt, und ja, am Ende singt sogar ein Chor. Was das mit Mobilität von morgen zu tun hat? Auf jeden Fall ist es aufregend und laut.
Der Autosalon in Genf zählt zu den wichtigsten Terminen der Autoindustrie. Was lustig scheint, denn die Genfer Messehallen sind derart winzig, dass eigentlich eher der Eindruck einer Kleintiermesse entsteht. Dabei ist dieser Salon ein Eisberg: Man sieht nur den Zipfel. Das große Geschäft bleibt dem Auge verborgen. Nicht umsonst werden hier vor allem die Neuheiten der Hersteller präsentiert. Also bleiben wir beim Zipfel, denn er symbolisiert besonders schön das Wesen dieser Handelsveranstaltung, die wirkt wie ein Klischee aus einer anderen Zeit. Es geht sogar so weit, dass die Schweizer Kollegen eine Handy-Hülle aus recycelten LKW-Planen auf den Tisch legen. Im Fünfzehn-Minuten-Takt donnern die Imagefilme der Marken durch die Hallen.
Der normalste Typ der Welt
Stellen Sie sich einen Mann vor: Graublauer Anzug, weißes Hemd, Krawatte, schwarze Schuhe, silbriges Kassengestell und akkurater Bürstenschnitt. Nicht besonders auffällig, denken Sie? Ganz genau. Mir ist dieser Mann bereits an verschiedenen Flughäfen über den Weg gelaufen und stets aufgefallen, weil er so unglaublich unauffällig ist. In seiner Konturlosigkeit sieht er niemals störend aus, eher sogar sympathisch. Und nun begegnen wir uns auf dem Stand von Ford. Überhaupt Ford. Die erfolgreichste Volumen-Marke startet mit der Ausstattungslinie Vignale einen Angriff aufs Premium-Segment. Die Amerikaner hatten zumindest in letzter Zeit wenig Pech, keine großen Skandale oder Rückrufaktionen und folglich Luft für Experimente. Luft, die man auch weiterhin fokussiert für sinnvolle Dinge, wie alternative Antriebstechnologien und zukunftsfähige Mobilitätskonzepte verbrauchen könnte. Stattdessen möchte Ford jetzt mit Vignale bei den Großen mitspielen.
Alles darf hier etwas satter sein, vierfache Lackierung, mehr Chrom, bessere Ausstattung und ein 24-Stunden-Service durch den persönlichen Vignale-Assistenten als Concierge und Reiseservice. Ihr Debüt feiern in Genf der neue Ford S-Max Vignale, der neue Ford Edge Vignale und der fünftürige Ford Mondeo Vignale sowie eine Konzeptversion des künftigen Ford Kuga Vignale. Sie alle eint ein zu groß geratener Grill, polierte Leichtmetallräder, verchromte Nebelscheinwerfer-Blenden und eine Zierleiste mit Vignale-Aufdruck. Der Premiumcharakter der Modelle soll sich auch im Inneren wiederfinden. Das in leichtem Kaschmirton oder dunklen Ebony-Farben gehaltene, sehr weiche Windsorleder der hexagonal gemusterten Sitze im Tuxedo-Stich trifft auf ein ansonsten eher konventionelles Interior.
Ford personifiziert als Marke den normalsten Typen der Welt, der, wie eingangs erwähnt, je nach Setting durchaus sympathisch wirken kann. Vielleicht wäre es besser, dabei zu bleiben, den poshen Kram anderen zu überlassen und lieber weiter intelligente Konzepte für die Zukunft auch im mittleren Markt-Segment zu verankern. Das Vignale-Logo passt, man muss es leider sagen, sowieso besser auf eine Kaffeemaschine.
Fliegende Familienkutschen
Mit Maschinen kennt man sich auch bei Ferrari aus. Und nun folgt logischerweise eine neue Familien-Maschine. Die Italiener zeigten in Genf den GTC4Lusso. Er behält den V12-Saugmotor und den Allradantrieb des FF, erhielt dazu aber eine für Ferrari völlig neue Hinterradlenkung. Der 6,3-Liter-V12 kommt auf 690 PS und entfaltet ein maximales Drehmoment von 697 Nm. Damit kommt der einzige aktuell erhältliche Viersitzer von Ferrari in 3,4 Sekunden auf 100 Stundenkilometer und beschleunigt munter bis 335 Stundenkilometer weiter. Der neue Allradantrieb mit Hecklenkung soll dafür sorgen, dass auch im Familien-Ski-Urlaub alles auf Spur bleibt. Insgesamt wirkt der GTC4Lusso mit seiner aggressiven Front aber nicht gerade kinderlieb. Im Innenraum hat Ferrari das sogenannte Doppelcockpit mit einer zweiten Anzeige für den Beifahrer installiert. Preise werden bei Ferrari nicht verraten. Bleibt die Frage: Wer soll diese Autos fahren?
Die Antwort findet sich bei Maserati: Ebenfalls für Maschinen bekannt und auch sonst ziemlich weit vorne, präsentieren die Italiener ihren neuen Familienwagen, den Levante, nämlich nicht, wie üblich, mit leicht bekleideten Damen, die sich über Motorhauben räkeln, sondern mit nicht weniger attraktiven Damen, die jedoch hochgeschlossen, man möchte sagen, fast verschleiert auftreten. Während mit halbnackten Damen garnierte Karossen den Sexismus vergangener Jahrzehnte symbolisieren, darf man die Hochgeschlossenen als Anbiederung an Absatzmärkte im Nahen Osten verstehen. Der Levante markiert zudem den verspäteten Aufbruch ins Segement der SUVs. Brachial geformt, mit einem schlundigen, weit aufgerissenen Kühlergrill, blitzgleichen Scheinwerfern, weit ausgestellten Kotflügeln über breiten Hinterrädern und einem charaktervoll auslaufenden Heck soll er gegen die Konkurrenz im Premium-Segment bestehen. Maserati möchte sich zudem ein wenig in Richtung Alltag und Familie erweitern. Also, ab in die Wüste. Die gleichermaßen eine Metapher für eine Oase des unglaublich dick aufgetragenen Luxus ist.
Auferstanden ohne Prinzen
Kommen wir zu Volvo, dem vielleicht einzigen wirklichen Lichtblick dieser Messe. Begrüßt wird man auf dem Volvo-Stand vom Schneewittchen-Sarg, dem P1800 ES, der vielleicht wie kein anderes Auto – nein, nicht mal der bei Architekten so beliebte Kombi 240 – das Besondere der Marke Volvo erlebbar macht. Man fragt sich, warum steht hier auf dem doch sehr begrenzten Platz in Genf ein Oldtimer? Sind erst die aktuellen Modelle mit gemischten Gefühlen passiert, steht man zum Schluss und ganz am Ende vor dem neuen Modell V90. Hier wird klar: Diese Anordnung ergibt Sinn! Firmenchef Hakan Samuelsson nennt das Modell V90 mit der großen Heckklappe „einen der edelsten Volvos aller Zeiten“. In seinem Gestaltungswillen und seiner mutigen Linienführung, die durchdacht, stilvoll und elegant wirkt, schließt dieser Kombi an den P1800 an – zeitgemäß erneuert und den heute üblichen Maßen angepasst, versteht sich. Die kantigen Formen mit charakteristischen Rückleuchten machen den neuen V90 auch bei Nacht sofort als Volvo erkennbar, doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger fällt das Heck, wie beim Schneewittchensarg, deutlich sanfter ab. Dennoch steht der neue Volvo V90 in einer Linie mit XC90 und dem eng verwandten S90. Alle drei Modelle verkörpern ein neues nordisches Selbstbewusstsein. Zu Recht. Im Spätsommer erfolgt für den V90 die Markteinführung.
Auf der letzten Insel der Welt
Auf dem Genfer Autosalon bleibt die Familie unter sich. Markenrepräsentanten, Einkäufer und Journalisten verlassen ihre Kaste nicht. Das Wir-Gefühl wird, trotz Wettbewerb, großgeschrieben. Schließlich gilt es, sich gegen Öko-Unkenrufe und dieses neumodische Mobilitätsverständnis zu verteidigen. Für den fachfremden Besucher wirkt der Salon aber gar nicht so elitär und aufregend, wie er es gern hätte. Um das Bild der Kleintiermesse wieder aufzugreifen: Natürlich sind schöne Exemplare darunter. Mit dem Züchter und seiner Verliebtheit möchte man sich dann aber doch nicht gemein machen. Auch wenn zum Abschluss der Pressekonferenz bei Ford ein Mitarbeiter-Chor singt – was verdeutlichen soll, wie sie alle für die Marke und den Kunden brennen – bleibt am Ende das diffuse Bild einer Branche, die mit einem Bein nach vorne und mit einem zur Seite geht. Abgasskandale, gezinkte Absatzzahlen und umfangreiche Rückrufaktionen sind vielleicht nur die Spitze des Eisberges. Aber BMW feiert dieses Jahr sein 100. Jahr! Zum Flughafen in Genf gehe ich jedenfalls lieber zu Fuß.
Die hier erwähnten und weitere Neuheiten vom 86. Genfer Autosalon finden Sie in der Bildergalerie über dem Text.