Stories

Alexander Girard: Der sinnliche Modernist

Zwischen Volkskunst und Moderne: eine Ausstellung über das vielschichtige Werk des Amerikaners Alexander Girard. 

von Norman Kietzmann, 16.03.2016

Mit der am 12.03. eröffneten Retrospektive A Designer’s Universe taucht das Vitra Design Museum in das Werk des amerikanischen Designers Alexander Girard (1907-1993) ein. Obwohl dieser zu den einflussreichsten Gestaltern seiner Generation gehörte, ist nur wenig über ihn bekannt. Die Ausstellung in Weil am Rhein bringt nun Licht ins Dunkel und zeigt, warum seine Entwürfe aktueller denn je sind.

Es gibt andere Wege, als sich nur dem Lauf der Welt zu fügen. Man schafft sich einfach seine eigene Welt. Als Alexander Girard im Alter von zehn Jahren aufs englische Internat geschickt wurde, reagierte er auf seine eigene Weise: Er erfand ein imaginäres Land, das er Celestia nannte, zeichnete Landkarten und Flaggen, ersann Briefmarken fiktiver Sehenswürdigkeiten und entwickelte schließlich verschiedene Geheimsprachen, die mit umfangreichem Wortschatz und funktionierender Grammatik durchaus praxistauglich waren. 

Design als Kommunikation 
Der Junge weihte nicht nur seine Schwester und mehrere Freunde in den Kosmos Celestia ein. Auch seine Eltern und Großeltern korrespondierten mit ihm in den selbsterfundenen Sprachen. Vieles, was im späteren Werk von Alexander Girard Bedeutung erlangen sollte, findet sich bereits hier: Er verstand Design nicht nur als funktionale Formgebung. Er sah darin vor allem ein Mittel der Kommunikation: eine vielseitig anwendbare Sprache, bei der aus wenigen Bausteinen eine unendliche Fülle an Möglichkeiten geschaffen werden kann. Auch während seines Architekturstudiums an der Londoner Architectural Association signierte Girard seine Skizzen mit geometrischen Zeichen statt mit seinem Namen oder seinen Initialen. Und selbst als er später zum Textildirektor des Möbelherstellers Herman Miller ernannt wurde, tauchten immer wieder Kodierungen aus seinen Kindheitsjahren in seinen Entwürfen auf.

Späte Würdigung
Dass das Wissen um Alexander Girards fiktive Länder und Sprachen erst im Zuge der Vorbereitung der Ausstellung ans Tageslicht kam, spricht Bände. Drei Jahre nach seinem Tod ist sein Nachlass 1996 mit 5.000 Plänen, Zeichnungen, Skizzen, Fotos und Textilmustern dem Vitra Design Museum übergeben, aber erst in den vergangenen Jahren systematisch aufgearbeitet worden. Dieser Umstand mag überraschen, da Girard zu den wichtigsten amerikanischen Gestaltern des 20. Jahrhunderts gehörte. Doch ein Grund dürfte zweifelsohne seine eigenwillige Interpretation der Moderne sein, die mit dem Rationalismus europäischer Prägung nur wenig zu tun hatte, und die erst heute – seit Kunst- und Handarbeit neue Beachtung geschenkt wird – aktuell erscheint.

Leidenschaft für Volkskunst 
Alexander Girard war nicht nur ein umtriebiger Gestalter, der Häuser, Interieurs, Möbel, Stoffe, Kleidung, Uhren, Grußkarten, sogar Münzen, Streichholzschachteln oder Spielzeug entwarf. Er pflegte eine Sammelleidenschaft für Volkskunst-Objekte, die ihn zu zahlreichen Reisen inspirierten und schließlich auch veranlassten, nach Santa Fe zu ziehen, um schneller über die Grenze nach Mexiko zu gelangen. Über 90.000 Objekte trug Girard zusammen, die heute im Museum of International Folk Art in Santa Fe zu sehen sind. 

Die Puppen, Masken und Spielzeuge archivierte er nicht nur in seinem Wohnhaus, sie beeinflussten auch seine Arbeit. Er nahm sie mit in sein Büro bei Herman Miller oder dekorierte mit ihnen das Restaurant La Fonda del Sol in New York – wo in authentischer Atmosphäre lateinamerikanische Küche serviert wurde. Zu seinen engen Freunden gehörten Charles und Ray Eames – zusammen drehten sie 1957 einen Dokumentarfilm über den „Tag der Toten“ in Mexiko. 

Internationaler Einfluss
Das Interesse an anderen Kulturen ist ein Schlüssel zum Werk von Alexander Girard. Im Alter von zwei Jahren zog seine Familie von New York nach Florenz, wo er dreisprachig in Italienisch, Französisch und Englisch erzogen wurde. Wortspiele, Neologismen und verdrehte Wortaussprachen gehörten früh zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Nach seinem Architekturstudium in London kehrte er 1930 nach Florenz zurück, wo er seinen ersten Interieurdesign-Auftrag erhielt. Im Anschluss ging er für ein Jahr nach Stockholm und arbeitete als Designer für das Kaufhaus Nordiska, bevor ihn der Umbau einer Villa nach Rom führte.

Holistischer Anspruch
In die Vereinigten Staaten kehrte Alexander Girard erst 1932 zurück. Nach einem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt New York zog es ihn 1936 in die boomende Industriemetropole Detroit. Dort arbeitete er als Chefdesigner für den Radiohersteller Detrola und lernte darüber auch Charles und Ray Eames kennen. 1947 eröffnete er in einem leerstehenden Hamburger-Restaurant ein Designgeschäft für Möbel und kleine bemalte Dekorationsfiguren aus Holz – die seit einigen Jahren vom Vitra Design Museum wieder produziert werden. Auf Empfehlung von Charles Eames und George Nelson übernahm Alexander Girard 1951 die Leitung der neuen Textilabteilung von Herman Miller und entwarf bis 1973 über 300 verschiedene Stoffe, denen die Ausstellung einen eigenen Raum widmet. 
Die Welt des Interieurs
Für Aufsehen sorgte Alexander Girard vor allem mit seinen Inneneinrichtungen. „Er nannte sein Konzept einen ästhetischen Funktionalismus. Ein Interieur sollte nicht nur funktional sein. Es muss auch zu den Sinnen sprechen, weswegen der Theaterfan Girard narrative Räume schaffen wollte", erklärt Ausstellungskurator Jochen Eisenbrand. Was er damit meint, zeigt das von Eero Saarinen erbaute Miller Haus (1953-1957) in Columbus, Indiana. Die Inneneinrichtung war alles andere als statisch. Wie eine Bühne wurden die Räume je nach Jahreszeit mit neuen Stimmungen bespielt. Dagegen konzipierte Girard die New Yorker Restaurants La Fonda del Sol (1960) und L’Etoile (1966) als perfekt durchkomponierte Welten, wo er von der räumlichen Abfolge bis hin zu kleinsten Details alles entwarf. 

Faszination des Jet-Zeitalters 
Ein Nebenraum der Ausstellung ist der Airline Braniff International gewidmet, für die Alexander Girard 1965 die gesamte Corporate Identity von der Grafik der Tickets über die Lounges bis hin zum gesamten Flugzeuginterieur entwickelte. Lediglich die Uniformen übertrug er dem Florentiner Modemacher Emilio Pucci, der kräftig in den Farbeimer greifen durfte. Auch hier ist sie wieder, die Sprache – zusammengesetzt aus geometrischen Mustern und leuchtenden Farben. Der Firmenauftritt zeigt keine Strenge oder Monotonie, sondern wird beständig variiert. 

Erst der Anfang
In der oberen Etage des Gehry-Museums sind 300 Objekte aus Girards Volkskunst-Sammlung zu sehen. Auch hier dreht sich alles um Farben, Muster und figürliche Formen. Die Schaukästen wirken wie Fenster in eine andere Welt. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu seinen Anfängen in imaginären Ländern und Sprachen. Denn in der Welt von Alexander Girard ist noch einiges zu entdecken, wie auch Mateo Kries, Chef des Vitra Design Museums, betont: „Wir sehen die Ausstellung nicht als Endpunkt, sondern vielmehr als den Beginn in der Auseinandersetzung mit dem Werk Alexander Girards.“

Alexander Girard: A Designer’s Universe
noch bis 29.01.2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein

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Links

Vitra Design Museum

www.design-museum.de

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