Das Auge isst mit
Essen als Medium der Gestaltung in der zeitgenössischen Food-Szene

Sie sind Künstler*innen, Designer*innen, Köch*innen und sie inszenieren Essen – jenseits von Restaurants und Cafés. Chelsea Turowsky aus Berlin, Alix Lacloche aus Paris oder die omnipräsente Laila Gohar aus New York lassen uns Nahrungsmittel auf ungewöhnliche Weise erleben. Über eine junge, internationale und überwiegend weibliche Szene von kulinarischen Studios und über das, was sie antreibt.
Das Essen bringt uns zusammen. Ob zu Hause oder im Restaurant, bei einem Fest oder beim Picknick im Park. Essen ist der beste Anlass, sich zu treffen, auszutauschen, gemeinsam Zeit zu teilen. Essen und Trinken sind Lebensnotwendigkeiten, aber auch soziale Tätigkeiten, die den Menschen Wohlbefinden und Zugehörigkeit versprechen. In Zeiten digitaler Normalität ist Essen zu einem Refugium des Unmittelbaren geworden, eine sinnliche Erfahrung, die uns im Moment leben lässt. Essen wird gefeiert – auch wenn Restaurants schließen müssen und Lebensmittelpreise steigen. Und Essen wird auch mehr und mehr gestaltet. Nicht nur in den Laboren der Lebensmittelindustrie, wo absonderliche Kreationen erfunden werden. Sondern vor allem von Köch*innen, Designer*innen, Autodidakt*innen und Künstler*innen.
Essen, oder allgemeiner auf Englisch „Food“, ist zu einem Medium der Gestaltung geworden, jenseits von Sterneküche und exklusiven Hotels. In den vergangenen Jahren ist eine internationale und interdisziplinäre Szene gewachsen. Die sozialen Medien als Treiber und Plattform zum Vernetzen haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Viele Akteur*innen fangen mit privaten Abendessen für Freund*innen an. Oft folgen dann Aufträge für Veranstaltungen und Markenpräsentationen. Sie betreiben Pop-up-Lokale und eigene „Culinary Studios“. Die Kreationen sind meist sehr ästhetisch, der visuelle Aspekt ist wichtig – nicht zuletzt für die Reichweite in den sozialen Medien. Früchte oder Gemüse werden zu Skulpturen arrangiert, Brote schlängeln sich über Tische und der fluffig aufgeschlagene, sogar eingefärbte Butterberg darf auch nicht fehlen. Dazu ungewöhnliches Geschirr, handwerklich gefertigte Gefäße und Tischwäsche. Auffällig ist: Viele der Protagonist*innen sind weiblich. Und die meisten meiden in ihrer Arbeit Orte der herkömmlichen Gastronomie wie Restaurants, Cafés und Bars.
„Meine Küche ist sehr intuitiv und persönlich“
„Ich bin Koch. Ich biete Essen in Restaurantqualität an – und das in den ungewöhnlichsten Umgebungen“, sagt Chelsea Turowsky. „Eines meiner Markenzeichen ist, dass ich nicht im Kontext von Restaurants arbeite“, ergänzt die Amerikanerin. Turowsky lebt seit 2018 in Berlin und gilt als eine der Wegbereiter*innen der alternativen Food-Szene hierzulande. Sie hat Lyrik in San Francisco studiert und parallel als Privatköchin gearbeitet. Ihre Gerichte entwickelt sie in ihrem Atelier in Wedding, sie sind von einem künstlerisch-erzählerischen Ansatz geprägt. So war Turowsky 2024 Stipendiatin der LAS Art Foundation. Sie arbeitet aber auch für zahlreiche Auftraggeber aus der Mode- und Lifestylebranche, darunter die Küchenmarke Reform, die Tableware-Marken Mono und Alessi, Design Hotels, Casa Camper oder das Magazin 032c. Sie konzipiert Menüs für Abendessen oder Caterings für Events und lädt regelmäßig zu Dinnern in ihren eigenen Raum namens Velella ein.
Chelsea Turowsky arbeitet seit einigen Jahren nach dem japanischen Prinzip des „Omakase“, was so viel heißt wie „Ich überlasse es Ihnen“ oder „Ich vertraue Ihnen“. Dabei entscheiden Köch*innen relativ spontan, was sie servieren, je nach saisonalem Angebot oder Situation. Omakase gilt als Ausdruck des Respekts gegenüber den Köch*innen. „Meine Küche ist sehr intuitiv und persönlich“, erklärt Chelsea Turowsky. Auch bei kommerziellen Aufträgen legt sie erst kurz vor dem Termin fest, was sie mit ihrem Team zubereiten wird. Auf diese Weise schafft sie Raum für Inspirationen. Oft lässt sie ihre eigenen Erfahrungen, Erinnerungen oder Träume in die Konzepte einfließen. Food ist für sie ein Medium, um Geschichten zu erzählen und einen besonderen Moment zu schaffen. Die Esser*innen sollen ganz im Augenblick verweilen. „Mir gefällt die Idee, dass sie in einem Trancezustand sind.“
Ein anderes zentrales Prinzip ist Zero Waste. „Das ist sehr wichtig für die Arbeit meines Studios. Ich möchte wissen, was mit überschüssigem Essen passiert“, so Turowsky. Deswegen sieht sie auch einige der Trends in der Food-Szene kritisch, etwa Installationen aus Nahrungsmitteln aufzubauen oder sich vor allem mit dem Styling von Gerichten zu beschäftigen. „Das heißt nicht, dass ich Ästhetik nicht schätzen würde.“ Die Komposition eines Tellers ist ihr wichtig und auch die Häppchen, die bei Events gereicht werden, sollen besonders aussehen. „Aber gerade jetzt, wo wir eine gewisse Übersättigung im Food-Styling sehen, konzentriere ich mich umso mehr auf Aromen“, sagt Turowsky. „Ich würde den Gästen eher die Augen verbinden, als Nahrungsmittel um des Aussehens willen zu verschwenden.“
Freude am Essen oder ästhetischer Effekt?
Die international wahrscheinlich bekannteste Figur der Szene ist Laila Gohar, eine in New York lebende Künstlerin ägyptischer Herkunft. Gohar beschäftigt sich seit Anfang der Nullerjahre mit Lebensmitteln und Essen. Ihre teilweise surrealistischen, üppigen und humorvollen Inszenierungen und Installationen waren stilprägend für viele jüngere Akteur*innen. Bei Instagram folgen ihr über 300.000 Menschen. Zu ihren Kunden gehören große Luxusmarken wie Prada, Hermès, Comme des Garçons oder Sotheby’s, mit Hay hat sie eine eigene Geschirrkollektion herausgebracht. 2020 startete sie mit ihrer Schwester Nadia Gohar das Label Gohar World, das amüsante und kuriose Objekte rund um den gedeckten Tisch verkauft.
Ebenfalls zu den Pionierinnen gehört Alix Lacloche aus Paris, die sich selbst als Köchin und „culinary scenographer“ bezeichnet. Ihre Inszenierungen und Gerichte sind ebenso originell wie verspielt, doch sie opfert, so sagt sie selbst, nie die Freude am Essen zugunsten eines ästhetischen Effekts. Auch Lacloche zählt die bekannten Namen der Mode- und Lifestyleindustrie zu ihren Auftraggebern, darunter Chanel, Christofle, Acne Studios, Galeries Lafayette oder Veja. Ebenfalls in Paris zu Hause ist das kulinarische Studio Toutia, geführt von den Schwestern Tracy und Théa, die einen libanesischen Hintergrund haben. Berlin ist ein weiteres Zentrum für inszeniertes Catering und Food-Design. Neben Chelsea Turowsky gibt es einige jüngere Studios, etwa Herrlich Dining oder Soft Serves. Die Innenarchitektin Judith Wölkl hat mit Successful Supper eine Plattform für außergewöhnlich gestaltete Tischobjekte in der deutschen Hauptstadt gegründet.
„Objekte, die die Rituale des Essens und Trinkens prägen“
Das Objekt steht auch für Astrid Luglio aus Mailand im Mittelpunkt. Sie versteht sich als Produktdesignerin mit einem starken Fokus auf Esskultur, wie sie es formuliert. „Ich gestalte Tableware und gedeckte Tische, kulinarische Werkzeuge, Räume und Objekte, die die Rituale des Essens und Trinkens prägen“, so Luglio, die 2018 ihr Studio gegründet hat. Mit dem Ziel, authentische und in der Geschichte und Kultur des Essens verwurzelte Erlebnisse zu schaffen. Ihre Arbeit reicht von der Karaffenserie Travasi für Ichendorf bis hin zur Ausstattung einer Filiale der bekannten Mailänder Bäckereikette Davide Longoni. Sie entwickelt auch experimentelle, handwerklich hergestellte Einzelstücke, die einen Nahrungsmittel wie Olivenöl neu erleben lassen sollen. „Essen ist nie nur Nahrungsaufnahme, es ist eine kulturelle Sprache, ein soziales Ritual, das Identitäten prägt“, sagt die Designerin. „Für Essen zu gestalten bedeutet, Momente des Teilens, der Erinnerung und des sinnlichen Erlebens zu gestalten.“ Ihre Projekte können verschiedene Ausgangspunkte haben. So beginnt sie etwa mit „ungewöhnlichen Zutaten, Rezepten, Werkzeugen oder lokalen Traditionen“ und verschiedenen historischen Quellen. „Ich überlege, wie Design helfen kann, sie der Welt sichtbar zu machen“, erklärt Luglio. „Andere Male starte ich mit einer Produktionstechnik, die eine starke kulturelle Bedeutung trägt, und lasse sie das Projekt leiten – fast so, als würde die Technik selbst zur Hauptfigur.“
„Wer isst diese ganze Butter eigentlich?“
Brini Fetz von Hej Studio wiederum ist eigentlich Grafikdesignerin, widmete sich aber schon im Studium dem Thema Food, als sie mit anderen Studierenden eine Pop-up-Bäckerei aufzog. Ihre Arbeit ist konzeptionell geprägt, neben dem Catering beschäftigt sie sich in Installationen und Fotoserien mit den ökologischen Auswirkungen von Essen. Sie pendelt zwischen ihrer Heimatstadt Bregenz und Kopenhagen, wo sie studierte. „Food ist faszinierend“, sagt Brini Fetz. „Ich finde, es gibt kaum etwas Faszinierenderes. Auf der einen Seite brauchen wir Essen, um zu überleben. Wir müssen uns mehrmals am Tag damit auseinandersetzen. Auf der anderen Seite kann es unfassbar spielerisch sein und der größte Luxus überhaupt.“ Wenn wir eine neue Kultur kennenlernen, dann seien die typischen Gerichte und Nahrungsmittel oft das zugänglichste Element.
Fetz hat schon Büfetts aus Lebensmittelresten angerichtet, Dinner nach Farben serviert, erforscht, wie Geräusche schmecken, oder untersucht, was auf dem Speiseplan besonders reicher und besonders armer Menschen steht. Mit dem Bewusstsein für die politischen und sozialen Dimensionen von Essen geht sie auch an ihre kommerziellen Projekte heran: „Wir achten stark darauf, dass alles, was an Lebensmitteln zum Einsatz kommt, auch verwertet wird“, erklärt die Österreicherin. Für kleine Events passe sie die Menge entsprechend an. „Dann stehe ich manchmal vor der Installation und denke, ja, schaut ein bisschen mickrig aus. Man braucht eben richtig viel Material, um einen Tisch zu füllen.“ Doch das nimmt Brini Fetz in Kauf – und wundert sich zugleich, dass Verschwendung in der Food-Szene kaum je thematisiert wird. „Social Media pusht das natürlich. Manchmal sieht man ein Bild und denkt sich: Wer isst diese ganze Butter eigentlich? Was passiert mit den Kohlköpfen, die als Dekoration verwendet werden?“ Mit Essen nur zu spielen, wie Eltern es früher oft Kindern unterstellten, das käme für die Designerin nicht infrage.
Chelsea Turowsky
chelseaturowskyLaila Gohar
lailagohar.comAlix Lacloche
alixlacloche.comHerrlich Dining
herrlichdining.deSoft Serves
soft__servesSuccessful Supper
successfulsupper.comAstrid Luglio
astridluglio.comBrini Fetz
brinifetz.comMehr Stories
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