Der Ikea-Effekt
Wenn aus Arbeit Liebe wird
Kartons aufreißen, Bauteile sortieren, Schrauben zählen: So beginnt ein DIY-Nachmittag nach einem Vormittag bei Ikea. Dass wir dort gern einkaufen, liegt am demokratischen Design und den günstigen Preisen – möchte man meinen. Eine Studie einer amerikanischen Forschergruppe hat eine weitere Theorie: Die Menschen bauen ihren Besitz gern selbst zusammen – und schätzen ihn danach als wertvoller und liebenswerter ein.
Als in den Fünfzigerjahren die Fertigprodukte in die Haushalte einzogen, sollten sie vor allem eines tun: die Hausfrau von lästiger Hausarbeit befreien. Es war das Zeitalter der Automatisierung und Elektrifizierung. Während die Hausfrau Vorwerks Kobold über den Wohnzimmer-Teppich zog, um die Toast Hawaii-Krümel der gestrigen Dinnerparty aufzusaugen, kümmerte sich die Waschmaschine um die Wäsche, der Mixer um den Keksteig, der Elektroherd um den Eintopf. Die Rationalisierung von Arbeitsprozessen war ein neuer Mitbewohner in den Nachkriegshaushalten. Doch in einem Punkt kamen die Effizienzbestrebungen an ihre Grenzen: Als in den USA die ersten Instant-Backmischungen auf den Markt kamen, verweigerten die Hausfrauen den Kauf. Rückfragen bei den Konsumentinnen ergaben, dass sie das Backen zu einfach aussehen ließen und das Können, Wissen und die Arbeitsleistung der Bäckerinnen entwerteten. So bediente man sich bei den Herstellern eines Tricks. Eier- oder Milchpulver wurden den Mixturen entzogen und die Anleitung enthielt Eigenleistungen: Das Ei musste aufgeschlagen werden oder eine Tasse Milch hinzugefügt, einige Kuchen forderten plötzlich aufwendige Dekorationen. Eigentlich hatten die Hersteller aber im ersten Rezept nur eine andere wichtige Zutat vergessen: die Arbeit.
Arbeitsleistung als Ressource
Erst im Jahr 2011 gaben Michael Norton, Dan Ariely und Daniel Mochon dem Phänomen einen Namen: „Der Ikea-Effekt“. Sie zitierten das Fertigkuchen-Gate der Fünfziger, um das Erfolgsmodell des schwedischen Möbelhauses zu erklären. Die veröffentlichte Studie mit dem Subtitel „When labour leads to love“ belegt anhand von mehreren Experimenten, dass Güter, in die Verbraucher*innen selbst Arbeit investiert haben, eine höhere Wertschätzung erfahren. Die Forscher ließen dafür Proband*innen einfache Aufbewahrungsboxen von Ikea zusammenbauen und fragten sie danach, wie viel sie dafür bezahlen würden. Eine Vergleichsgruppe erhielt hingegen die Möglichkeit, die Boxen fertig montiert zu erwerben. Die Bau-Gruppe bot im Durchschnitt 63 Prozent mehr als die Konsument*innen-Gruppe. Im Bauprozess hatten die Monteur*innen eine emotionale Bindung zum Produkt entwickelt und ihre Arbeit als eine in das Produkt investierte Ressource hinzugerechnet. Norton, Ariely und Mochon schließen aus den Ergebnissen, dass durch die lange Auseinandersetzung Sympathie entsteht. Außerdem fühlten die Bauenden sich durch die Selbstmontage kompetent, wobei das Produkt zum Beleg für ihre Fähigkeiten wird.
Investition in die Bindung
Wer vom Ikea-Effekt weiß, kann ihn nutzen, um sein Produkt aufzuwerten. Erfolgsmodelle außerhalb der blau-gelben Möbelwelt gibt es zur Genüge. Schon Kinder übersehen gern, dass ihnen mit jedem Überraschungsei billiges und oft nicht allzu amüsantes Plastikspielzeug untergejubelt wird, wenn sie es nur selbst zusammengesetzt haben. Sie malen Bilder nach Zahlen und blenden in Begeisterung über das Ergebnis eine rationale ästhetische Bewertung aus. Oder es werden Modellflugzeuge gebaut, in die so viel Arbeitsleistung investiert wurde, dass Flug und potenzieller Absturz als ein zu großes Betriebsrisiko eingestuft werden. Erwachsene pflücken ihre Beeren auf Feldern selbst und sind dann bereit, mehr zu bezahlen als im Supermarkt. Sie stricken Pullover aus Wolle, die unverarbeitet mehr kostet als ein industriell hergestelltes Kleidungsstück im Modehaus. Oder sie starten engagierte Heimwerker*innen-Projekte, über deren wacklig-schiefes Ergebnis geflissentlich hinweggesehen wird. Und wahrscheinlich ist auch der nachhaltige Erfolg von Lego auf nichts anderes zurückzuführen als den Ikea-Effekt – warum sonst würde man Flugzeuge und Bagger aus Klemmbausteinen im eigenen Regal so ausstellen, als wären sie ein archäologisches Exponat.
Lieb mich, reparier mich
Wird der Weg zum fertigen Produkt mit begleitet, wird auch ein besonderer Zugang und Bezug zu den Alltagsgegenständen entwickelt. Jede gelungene Montage ist ein kleines Erfolgserlebnis. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um demokratische Günstig-Möbel handelt oder teure Produkte – auch das legt die Studie nahe. Wer seinem Designersofa einen neuen, vom Hersteller handgefertigten Bezug überzieht, wird in der Folge gegebenenfalls zur nachdrücklichen Rotwein-Polizei. Viele Unternehmen, die auf Direktvertrieb und heimischen Zusammenbau setzen – wie USM mit seinen etablierten Systemmöbeln, die Sofa-Pioniere von Noah Living oder Tylko-Regale – profitieren indirekt vom Ikea-Effekt. Gerade wenn sie ihre Produkte im Internet absetzen, auf Zwischenhändler verzichten und ihre Möbel mit Paketdienstleistern versenden, müssen sie nicht mit einer geringeren Akzeptanz rechnen, sondern vielmehr damit, dass ihre Kund*innen ihre Konstruktionsleistung stolz kommunizieren. Außerdem könnte der Ikea-Effekt sich auf ein weiteres, aktuell durch die neuen EU-Richtlinien viel diskutiertes Nachhaltigkeitsthema positiv auswirken: die Reparaturfähigkeit. Wer eine schwächelnde Kaffeemaschine mit wenigen Bauteilen aus dem Ebay-Kosmos wieder betriebsfähig schrauben kann, wird ihre erhaltene Funktionsfähigkeit umso mehr schätzen.