Jung, kreativ, bietet...
Eine von der Möbelwirtschaft unabhängige Gestaltergeneration

In den letzten 15 Jahren hat im Design ein Mentalitätswechsel stattgefunden. Aufstrebende Gestalter*innen nehmen Kreativleistung, Produktion und Vertrieb in die eigene Hand und etablieren sich als unabhängige Label. Wir stellen drei frisch gegründete deutsche Studios vor, die als Generalunternehmen neue Wege gehen.
Es ist eine Umkehr der Marktlogik: Nicht mehr die Hersteller richten darüber, welche Produktentwürfe sie abnehmen, Designer*innen selbst entscheiden, ob sie sich ihr Produkt überhaupt abnehmen lassen wollen. Oder ob sie lieber zu ihrer eigenen Marke werden – und damit auch den vollen Gewinn am einzelnen Produkt abschöpfen. Nur sehr wenige Autorendesigner*innen können allein von ihrer Arbeit für Unternehmen leben, bei denen die Vergütung in den meisten Fällen noch immer auf Basis eines Anteils erfolgt. Das heißt: Gestaltende erhalten einen fixen Betrag vom Verkaufspreis. Der liegt oft bei wenigen Prozent. Wer einen Sofaentwurf an ein exklusives Möbellabel abgibt, der hat trotz eines hohen Verkaufswerts am Ende des Jahres vielleicht nicht mehr als einen dreistelligen Betrag erwirtschaftet. Und auch bei kleinen Produkten mit höheren Auflagen läuft es meist nicht besser – am Ende landen pro Produkt ein paar Euro auf dem Konto der Gestaltenden. Dazu kommt der gelegentliche Frust in Bezug auf die finale Umsetzung, denn die kreative Leistung muss sich auch den Ansprüchen und Vorstellungen der Auftraggeber beugen. Was passt in die Kollektion, welche Materialien werden eingesetzt, welche Formen sind mit den Zulieferern oder dem eigenen Maschinenpark realisierbar? Am Ende erkennen manche Designer*innen ihre Entwürfe nicht wieder. Wer hingegen selbst produziert, kann jede unternehmerische und gestalterische Entscheidung selbst treffen.
Dass junge Gestaltende heute die Möglichkeit haben, sich autonom zu positionieren, liegt an neuen Arbeits- und Vertriebsmodellen. Da sind die generativen Fertigungsverfahren und computergesteuerten Produktionsmöglichkeiten, mit denen sich Kleinauflagen und eine Herstellung on demand realisieren lassen. Gestaltende besinnen sich auf das nationale und lokale Handwerk. Sie kooperieren mit Schreinereien, Polstereien oder Metallbauwerkstätten aus der Nachbarschaft, die ihre Entwürfe umsetzen oder bilden kreative Netzwerke. Digitale Plattformen und soziale Kanäle wie Instagram sorgen für neue Vertriebswege. Designer*innen sind nicht mehr auf Spezialisten angewiesen, sondern stellen preislich und qualitativ konkurrenzfähige Produktserien selbst her, kommunizieren und verkaufen sie. Das Publikum wiederum schätzt den direkten Kontakt und den persönlichen Bezug, bei dem auch schon mal Sonderwünsche – wie eine individuelle Pulverbeschichtung oder angepasste Maße – berücksichtigt werden können. Und die jungen Labels sind meist transparent, legen Materialherkunft, Partner und Produktionsort offen.
Rahmlow – Möbel mit Familiengeschichte
Von 1985 an präsentierte das Möbellabel Rahmlow seine Produkte über sieben Jahre auf der imm cologne. Verchromte Tischgestelle in geometrischen Verschränkungen, konstruiert mit Liebe zum Detail, produziert in Handarbeit und ausgeliefert im VW-Bus T2. Dann wurde die Produktion eingestellt. 25 Jahre nach der Auflösung des Unternehmens findet Aaron Rahmlow von Lüpke eine Kiste seines verstorbenen Vaters Rolf, darin die alten Unternehmensunterlagen, Skizzen und Dokumente. Was als romantische Idee beginnt – „Wir bauen die alten Möbel mal nach“ –, wird schnell professioneller. Mit an Bord ist der ehemalige Kompagnon, Edgar Rahmlow, Bruder des Gründers, Onkel des Neugründers und Leiter einer Metallmanufaktur. Sie bringen die alten Ikonen zurück, die in den Achtzigern in 170 exklusiven Möbelhäusern standen, entwickeln diese aber auch weiter. Neue Materialien, bessere Verbindungselemente, die Optimierung der Arbeitsprozesse: Für die neue Auflage werden die Möbel auf die aktuellen technischen Möglichkeiten hin optimiert und zusätzlich zu den klassischen Holzplatten bietet Rahmlow Glasplatten an, die die Silhouetten der Untergestelle aus jedem Blickwinkel sichtbar machen.
AKTTEM – Immer in Bewegung
Verena Hennig hat eigentlich Grafikdesign und Regie studiert, dann als Produktdesignerin gearbeitet. Wenn sie sich heute vorstellt, dann als „Creative Director, Designerin & Unternehmerin“. 2018 hat Hennig sich entschlossen, ihre Möbel unter den Schirm einer eigenen Marke zu stellen. Eigentlich war eine Gründung nie ihr erklärtes Ziel, der Weg dahin eine Folge logischer Konsequenzen. „Angefangen hat das 2015“, erzählt sie 2019, bei ihrer zweiten Ausstellung auf der Kölner Möbelmesse imm. „Damals wurde ich vom Neuen Museum Nürnberg eingeladen, eine temporäre Installation zu gestalten. The Line war eine lange Bank aus Luftmatratzen mit interaktiven Potentialen. Sie funktionierte ähnlich wie eine Hüpfburg, was bei der Ausstellung für eine fröhliche Dynamik sorgte.“ Diese ausgelassene Stimmung, die die Interaktion zwischen Ding und Mensch auslöste, wollte Hennig auf ein alltagstaugliches Produkt übertragen. Daraus entstand Roll, eine Bank, auf der Sitzende sich selbst auf beweglichen Rollen gleitend von links nach rechts schieben können. Seither ist die Produktpalette gewachsen. Von Möbeln über Beleuchtungselemente bis hin zu Wohnaccessoires. Eine Familie mit gemeinsamem Ursprung, die Hennig nur ungern getrennt hätte. Deshalb gründete sie Akttem, basierend auf einer Wortschöpfung aus aktiv und item und eine perfekte Beschreibung für ihre Objekte in Bewegung. Hennig interessiert es, wenn der Nutzer eine Emotion entwickelt, denn die ist immer auch ein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Nach Gefühlen fragt selbst Marie Kondo: „Macht es mich glücklich, wenn ich diesen Gegenstand in die Hand nehme?“ Wenn die Antwort ja lautet, darf das Ding bleiben. Unter anderem in Flagship-Stores von Puma: Nachdem eine der agilen Roll-Bänke ins New Yorker Shop-Interieur eingezogen ist, hat sich die Sportmarke jetzt entschlossen, Roll auch in alle kommenden Stores zu stellen.
Sammlung Walter – Drei in eins
Wer einen Stuhl braucht, kann sich im Möbelladen einen mitnehmen, im skandinavischen Möbelhaus einen Karton zum Selbstbau einpacken – oder einfach einen Balken über ein Bierkisten-Duo legen. So oder so ähnlich ließe sich auch der Grundgedanke beschreiben, auf dem die Idee zur Sammlung Walter basiert. Denn bei diesem Designmöbellabel können die Kunden entscheiden, wie viel Eigenleistung sie einbringen wollen und wie viel Geld sie ausgeben möchten. Jedes Produkt wird in drei Varianten angeboten: DIY, Serial und Craft. Die günstigste Lösung ist das Heimwerken. Dazu wird ein Open Source Design auf der Webseite von Merle und Till Richter heruntergeladen, man kauft Material und greift zum Hammer. Die Serien- und Manufakturprodukte werden von der Sammlung Walter vertrieben. Merle und Till Richter, assoziierte Betriebe und Kunsthandwerker produzieren die Objekte – einmal als Serie, einmal als individuelles Unikat. Die Ergebnisse fallen entsprechend unterschiedlich aus. Der Selbstbau ist niederkomplex und funktional, die Serienproduktion auf die Maschinenpotentiale maßgeschneidert und das Kunsthandwerk spielt seine dekorativen Potentiale aus. Bei manchen Produkten, wie etwa dem Stuhl, erkennt man am Ende die Familienzugehörigkeit noch. Der Tisch hingegen durchläuft eine Evolution mit starker Differenzierung.
Die drei Studios verfolgen mit der Ausrichtung ihres Portfolios unterschiedliche Ansätze, sind aber trotzdem gemeinsam unterwegs. Und sie sind nicht allein. Gerade in Berlin, Köln und Hamburg ereignete sich in den letzten Jahren geradezu ein Gründerboom, zu dem auch mittlerweile gut etablierte Protagonisten wie New Tendency, Loehr, Objekte unserer Tage, Victor Foxtrot, Bannach oder Mykilos gehören. Sie stehen für eine Kulturrevolution in der Kreativwirtschaft, für eine Evolution des Handwerks und der Fertigung und für die Lust am eigenen Start-up. Von den großen Playern der Möbelbranche könnte die Entwicklung langfristig durchaus als kleiner Protest und große Herausforderung verstanden werden, die die Maßstäbe für den materiellen Wert des Designs vielleicht – und das wäre zu hoffen – doch noch einmal verschiebt.
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