Stories

Leben im Ommm

Die Verbeigung des Wohnraums ist Farbtrend und Gefühls-Seismograph

Eierschale, Elfenbein, Ecru, Sand und Creme: An schönen Namen fürs hyperneutrale Beige mangelt es nicht. Wohnräume von Calabasas bis Castrop-Rauxel werden neuerdings farbenfrei statt farbenfroh eingerichtet und sind damit die ästhetische Expansion des Yogazimmers. Sie versprechen mit makelloser Monochromie visuelle Ruhe und werden zum Schutzraum vor urbaner Hektik und digitaler Informationsflut.

von Tanja Pabelick, 14.07.2023

Amy Lau wohnt beige. Die Protagonistin der Netflix-Serie Beef ist Bürgerin der Gemeinde Calabasas, einer wohlhabenden, exklusiven und glamourösen Gemeinde vor den Toren von Los Angeles. Ihr Mann ist Künstler und Designer-Sohn. Sie führt einen minimalistischen Shop für Grünpflanzen. Ihr gemeinsames Haus ist mit gestalterischer Perfektion eingerichtet. Allerdings: Während die kalifornische Sonne die Stadt unerbittlich in gleißendem Licht schwimmen lässt, ist es im Haus konsequent schummrig. Das ist natürlich Absicht, Netflix hat die skandinavisch-japanisch beeinflusste Einrichtungswelt bewusst zurückhaltend ausgeleuchtet und auf neutrale Töne gesetzt. Amys Haus ist ihr Fluchtort, denn Amy Lau hat Stress. Auf einem Baumarktparkplatz gerät sie beim Ausparken in Streit mit einem anderen Kunden. Kurze Zeit führen die beiden einen Kleinkrieg auf Distanz. Dann findet der Fehden-Gegner ihre Adresse heraus, gibt sich als Handwerker aus – und uriniert auf den Boden ihres beigefarbenen Badezimmers. Der Pinkel-Angriff auf die sichere Höhle von Amy Lau führt zur endgültigen Eskalation: Es gibt Beef.

Inside Kim Kardashinans Home / VOGUE

Ein Tempel aus Schaffell und Leinen
Wohnwelten zwischen Hafer und Sand gibt es derzeit überall zu sehen, nicht nur auf Netflix, sondern auch auf Instagram und bei den Nachbarn. Das vielleicht bekannteste cremefarben eingerichtete Haus bewohnt Kim Kardashian (ebenfalls in Calabasas). Mit ihrem Ex-Mann Kanye West und dem Designer Axel Vervoordt wurde in der Millionenvilla eine Einrichtungs-Askese nach dem Vorbild eines belgischen Klosters gestaltet. Im Interview mit der Vogue erzählt sie warum: „In der Welt da draußen ist so viel Chaos. Wenn ich nach Hause komme, will ich, dass es wirklich ruhig ist – und ich möchte, dass sich alles beruhigend anfühlt.“ Kardashian versteht ihr Zuhause als Raum gewordenes Ommm, das mit seiner Klarheit Körper, Geist und Seele in Einklang bringt. Wohnwelten auf Farbentzug sind ein analoger Gegenentwurf zur digitalen Hektik von Instagram und TikTok, eine friedvolle Bastion im urbanen Alltag, eine Umarmung aus Schaffell und Leinen.

BEEF Netflix / Bathroom Scene

Das neue Neutral
Wie jeder Trend hat ironischerweise auch der beigefarbene Lebenstempel in den sozialen Netzwerken ein lautes Echo. Und natürlich einen Hashtag. Die #vanillagirls influencen in elfenbeinfarbenen Kaschmirpullovern auf Hussensofas, dekorieren mit Pampasgras und Beni Ourain-Teppichen, rühren sich in gebeizten Küchen Porridge an. Und selbst vor Kinderzimmern machen die Ocker- und Sandtöne nicht Halt. Beige ist für die Vanillagirls ein Lifestyle, der Naturverbundenheit, Nachhaltigkeit und Besinnung kommuniziert – und wiederum diejenigen provoziert, die darin nur ein weiteres Phänomen der unrealistischen Überinszenierung sozialer Netzwerke durch vor allem junge, weiße, privilegierte Frauen sehen. Hashtag: #sadbeige. Gemeinsam mit einem Crying Face-Emoji machen die Gegner*innen damit auf das ursprüngliche Image neutraler Töne aufmerksam.

Konsequent MuFu: Rentnerbeige
Der Unfarbe Beige haftet auch eine gewisse Mutlosigkeit an. Greige, die Nuance zwischen Grau und Beige, gilt als liebste Kleidungsfarbe der Menschen im dritten Lebensalter. Wenn die Frage, ob der blaue Pulli zur schwarzen Hose passt, den Alltag nur unnötig kompliziert, wird kurzerhand der Kleiderschrank verbeigt: Eierschale, Elfenbein, Creme, Ocker. Siehe da: Plötzlich passt alles zusammen und ist noch dazu viel freundlicher als ein ähnlich kompatibles Business-Schwarz. Dazu wählen die Best Ager*innen dann bequeme Schnitte und funktionale Details – wie aufgenähte Zipper-Taschen – und freuen sich über Beschreibungen wie „Mehrzweck“, „atmungsaktiv" und „Outdoor". Besser könnte man weder im urbanen Betongrau noch vor einer Kalkwand an der Mosel getarnt sein. Jetzt aber werden plötzlich genau nach diesen Parametern ganze Wohnungen eingerichtet. Mit einer aufs Pudrige limitierten Palette wird nach dem Vorbild der Senioren-Fashion neuerdings die Möbelwahl vereinfacht.

Eine saubere Höhle
Warum darf in die Millennial- und Generation-Z-Interiors breitflächig einziehen, was in den Kleiderschränken der Boomer so nachdrücklich geächtet wurde? Woher kommt der plötzliche Sinneswandel, die Lust an der Homogenisierung von Sofas, Tischen und Regalen? Nach dem Trend monochrom eingerichteter Weißräume ist die Vanilla-Ästhetik ein warmes Update des Minimalismus. Weiß wirkt für sich allein steril, kalt und hygienisch, sandige Pastelle hingegen warm und beruhigend. Es entsteht eine Askese, die nicht von Verzicht, sondern von buddhistisch inspiriertem Luxus erzählt – ein Ort ohne Störungen, der den Blick aufs Detail lenkt, mit einer archaisch anmutenden Haptik als Gegenentwurf zur visuell krachenden Ästhetik bunter Räume.

Bouclé und Rauputz
Im Fall beigefarbener Wohnungen sind Texturen entscheidend. Mit matten, groben, gewebten, gesandeten oder gestrickten Oberflächen sorgen sie für eine sanfte Nuancierung, die sich mit dem Licht verändert und zum „Nachspüren“ bewegt. Beige – das ist einerseits eine sichere Bank und maximale Gefälligkeit, andererseits aber auch eine Herausforderung in einem Leben mit Rotwein und Filzstiften (wegen der Flecken), Büchern (müssen mit dem Rücken zur Wand stehen) oder Kleiderstangen (wohin mit der roten Daunenjacke?). Eine rigorose Ästhetik als Einrichtungskonzept lässt sich wohl nur von denjenigen umsetzen, deren Leben größtenteils ausgelagert stattfindet – oder die viel Zeit haben, um sich selbst hinterherzuräumen. Allen anderen empfiehlt sich die Einrichtung einer beigefarbenen Zone mit klaren Grenzlinien. Das macht übrigens auch Kim Kardashian so, die ihren Kindern Chaos und Farbe in den eigenen Zimmern erlaubt – und ihre Kleider in ein hauseigenes Warehouse ausgelagert hat.

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Projekte ganz in Beige

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