Hommage an die Leere
Ein Restaurant in Kiew feiert die Ästhetik der Einfachheit

Mit viel Luft und inszenierter Leere will Victoria Yakusha den Blick auf das Wesentliche lenken. Für die Architektin sind das Texturen und natürliche Materialien, erdige Nuancen und die Handwerkskunst ihres Heimatlandes, der Ukraine. In Kiew machte sie ein Restaurant zu einer Höhle, in der sich der Gast ganz auf den Moment und Essen als Ritual konzentrieren soll.
Die Räume und Objekte aus der Feder von Victoria Yakusha sind avantgardistisch und traditionalistisch. Innerhalb weniger Jahre ist die Architektin mit ihren beiden Unternehmen, dem 2006 gegründeten Designbüro Yakusha und dem 2014 lancierten Möbellabel Faina, zur wichtigsten und bekanntesten Vertreterin der jungen ukrainischen Designszene geworden. Was sie entwirft, erzählt Geschichten: von den Karpaten oder vom Schwarzen Meer, aus Bauernstuben, Schreinereien, Webereien und Töpfereien, von der ursprünglichen Natur und den lokalen Ressourcen. Die eigene kulturelle Identität ist Victoria Yakushas Thema. Mit ihren Entwürfen bringt sie das Kunsthandwerk und die Traditionen des Landes in Alltag und Gegenwart.
Essen und Ästhetik
In ihrer Heimatstadt Kiew hat sie ein Restaurant gestaltet, das mit seiner ästhetischen Sprache – aber auch mit seinem Narrativ – typisch für die Designerin ist. Essen wird hier als Erlebnis und Ritual verstanden und der Raum ist Teil einer alle Sinne adressierenden Inszenierung. Das verrät schon der Name (dem, der Ukrainisch versteht): „Istetyka“ setzt sich aus den beiden Wörtern für Essen und Ästhetik zusammen. Der Besuch des Restaurants soll wie die Antithese zu dem Besuch einer Fast-Food-Kette wirken. Es geht darum, sich gemütlich niederzulassen, zu entschleunigen und sich bewusst dem Essen zu widmen. Um ihre Botschaft zu transportieren, nutzt Victoria Yakusha vor allem die Leere. Sie erklärt warum: „Man muss nichts Großes machen, um bemerkt zu werden. Wir haben uns hier auf den wesentlichen Kern fokussiert. Um ihn zu betonen, haben wir viel Luft gelassen.“
Eine gemalte Hommage ans Brot
Die Gäste betreten das Restaurant über eine Treppe aus Holz, die von Wänden aus Lehm und rohem Beton eingefasst wird. Die einzige Dekoration ist ein kleines Gemälde an der Wand des oberen Treppenabsatzes. Die Abbildung erkennen die Gäste erst, wenn sie oben angekommen sind. „Das Brot steht für die ästhetische Herangehensweise des Essens als Kunst“, erklärt Victoria Yakusha. Hinter dem Aufgang öffnet sich das Lokal wie ein Tempel. Die hohen Wände und die archaischen Materialien lassen den Raum regelrecht sakral wirken. Um die weiten Flächen funktional zu organisieren, wurden sie mit zwei Gastbereichen und der Küche in drei Zonen aufgeteilt. Der Hauptbereich ist mit großen, runden Tischen möbliert. Entlang der Fensterfront und um die Tische herum fließt eine einzige Sitzbank, die auch in den nächsten Teil des Lokals übergeht. Dort stehen kleinere Bistrotische aus Beton, an denen ein bis zwei Personen Platz finden. Kleine Kuben aus recyceltem Kunststoff dienen als mobile Sitzgelegenheiten. Weil sie aus grauem Granulat in mehreren Nuancen gefertigt wurden, erinnern sie an Naturstein, sind dabei aber federleicht.
Istetyka, Ztista, Walkyvannia
Materialien und ihre Herkunft waren Victoria Yakusha bei der Gestaltung des Istetyka besonders wichtig. Das Interieur ist ein Spiel von Flächen und Texturen: Lebendiger Lehm trifft auf glatten Stahl, warmes Holz auf kalten Stein. Bei ihrer Verarbeitung setzt die Architektin auch auf alte ukrainische Handwerkstechniken. Die großen, runden Tische etwa wurden aus einem „Ztista“ genannten Material gefertigt. Es besteht aus Ton, Recyclingpapier und einigen anderen natürlichen Zuschlägen und wird wie Pappmaschee von Hand auf ein Skelett aus Stahl aufgetragen. Diese Technik ist als „Walkyvannia“ bekannt und wurde ursprünglich zum Bau von Wohnwänden eingesetzt. Im Istetyka sorgt sie für Möbelunikate mit lebendigen Unregelmäßigkeiten. „Wir kombinieren moderne Materialien und Techniken mit Altbekanntem, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Lehmwände haben nach ukrainischer Tradition eine sehr starke Energie“, erläutert Victoria Yakusha.
Der Tradition verpflichtet
Viele der eingesetzten Möbel und Accessoires stammen aus der Kollektion von Faina, anderes wurde speziell für das Restaurant entworfen. Gemeinsam haben alle Elemente des Interieurs, dass sie von lokalen Handwerkern gefertigt wurden. Dazu gehören auch die Makramee-Leuchten, die mit langen Fransen in den Raum hängen und zwischen Ton, Stein und Stahl mit verspieltem Charakter einen warmen Akzent setzen. Am Ende macht die Komposition aus Erdtönen und erdigen Materialien das Restaurant zu einer warmen Höhle, die – findet zumindest die Architektin – ihre spezielle ästhetische Wirkung vor allem in der Dämmerung entfaltet: „Besonders nach dem Sonnenuntergang füllt sich der Innenraum mit einem beruhigenden Licht.“
FOTOGRAFIE Yevhenii Avramenko
Yevhenii Avramenko
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