Making Africa: Ein Kontinent im Aufbruch
Das Vitra Design Museum zeigt, wie afrikanische Gestaltung im Wechselspiel aus digital und analog eine neue Rolle einnimmt.

Schluss mit dem eurozentrischen Designverständnis: Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein richtet den Fokus auf den afrikanischen Kontinent. Das Ergebnis ist eine überraschende wie sehenswerte Schau, die nicht nur die Grenzen zwischen Design, Mode, Grafik, Architektur und Kunst verwischt. Sie zeigt, wie afrikanische Gestaltung im Wechselspiel aus digital und analog eine neue Rolle einnimmt.
Design ist nicht unbedingt die erste Assoziation, die einem beim Stichwort Afrika in den Sinn kommt – ein Irrtum, wie die neue Ausstellung Making Africa im Vitra Design Museum in Weil am Rhein beweist. „Wir müssen unser Bild von Afrika endlich weiter fassen, als das oft der Fall ist. Afrika ist mehr als ein Kontinent – und definitiv mehr als Hunger, Korruption oder atemberaubende Landschaften“, sagt Kuratorin Amelie Klein. Zwei Jahre hat sie die Ausstellung vorbereitet, die im Herbst in einem weiteren Gehry-Gebäude Station machen wird: im Guggenheim Museum in Bilbao.
Interdisziplinäres Arbeiten
Der globale Wandel hat nicht nur die Schwellenländer Asiens, Mittel- und Südamerikas erfasst. Auch Afrika befindet sich im rasanten Umbruch. 2012 wurden auf dem Kontinent rund 650 Millionen Mobiltelefone registriert – mehr als in Europa und den USA zusammen. Nairobi und Laos haben sich längst zu Zentren einer wachsenden Start-up-Industrie gewandelt, wo weltweit millionenfach heruntergeladene Apps entwickelt werden. Vor allem das Internet hat eine neue Generation von Machern und Denkern hervorgebracht, die mit ihren Arbeiten die Disziplinen verschwimmen lassen. Und so treffen in der Ausstellung nicht nur Möbel- und Produktdesign mit Grafik, Illustration, Mode, Architektur, Stadtplanung, Kunst, Film und Fotografie zusammen. Auch die Grenzen zwischen Handwerk und Industrie, Digitalem und Analogem werden lässig ignoriert.
Informelles Machen
„Diese Arbeiten werden nur selten in großer Stückzahl produziert, doch dafür im Kollektiv. Sie entstammen häufig einer informellen Maker-Kultur, wo mit traditionellen und elektronischen Werkzeugen Vorhandenes umgestaltet und Neues produziert wird. Sie schlagen eine Brücke zwischen der digitalen Revolution und unserer analogen Existenz“, erklärt Amelie Klein beim Rundgang durch die Schau. Was sie vermeiden wollte, war der Anspruch auf Vollständigkeit. Schließlich lässt sich ein Kontinent mit 54 Staaten, mehr als einer Milliarde Bewohnern und mehreren hundert Sprachen kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die vorgestellten Arbeiten sind vielmehr als appetitanregende Happen zu verstehen, die einen Einblick in das Spektrum afrikanischer Gestaltung geben sollen. Doch schon hier wird es schwammig. Schließlich liegt der Schwerpunkt vor allem auf Zentral- und Südafrika, während der gesamte Norden ausgeklammert wird. Wird also doch alles wieder in einen Topf geworfen?
Als Sinnbild für den angestrebten Perspektivwechsel werden die Besucher gleich im ersten Ausstellungsraum von den Brillenskulpturen Cyrus Kabirus empfangen. Mit seinen aus weggeworfenen Gegenständen wie Löffeln, Drähten und Kronkorken geformten Objekten vermochte der Kenianer weltweit Aufmerksamkeit zu erregen. Einmal aufgesetzt, verändern sie nicht nur die Sichtweise ihrer Träger, sondern ebenso ihre eigene Gestalt. Das Bekannte neu zu betrachten, gelingt auch dem schwedischen Künstler Nikolaj Cyon mit seiner Arbeit Alkebu-Lan 1260 AH. Lange vertiefte er sich in die Geschichte der afrikanischen Staaten und erstellte schließlich eine Landkarte. Sie zeigt, wie der Kontinent heute aussehen würde, wenn ihm der europäische Kolonialismus erspart geblieben wäre. Doch so korrekt die Darstellung anmutet: Bei der Zuordnung einzelner Bevölkerungsgruppen zu bestimmten Staatsgebieten war durchaus Fantasie erlaubt.
Selbstbewusster Auftritt
Eine Abkehr von den üblichen Negativ-Klischees vollzieht der zweite Ausstellungsraum. Design wird hier als Medium der Kommunikation begriffen. Mit seiner Hairstyles-Serie dokumentierte der Fotograf J.D.‘Okhai Ojeikere über Jahrzehnte die skulpturalen Frisuren nigerianischer Frauen. Südafrikas erfolgreichster Lifestyleblog Skattie, what are you wearing? zeigt Einblicke in ungewöhnliche Alltagsmode jenseits der Hochglanzmagazine. Atmosphärisch wirken die Aufnahmen aus der Serie The Studio of Vanities, mit der der Fotograf Omar Victor Diop die Kunst- und Kulturszene von Dakar portraitiert. Ihre Besonderheit liegt im Verschmelzen der Personen und ihrer Kleider mit perfekt abstimmten Hintergründen aus eigens angefertigten Stoffen.
Der Trend zu selbst gedrehten Happy-Videos, bei denen Menschen zu Pharell Williams gleichnamigen Song durch die Straßen tanzen, hat auch in Afrika begeisterte Nachahmer gefunden. Auf einem Bildschirm laufen 26 Youtube-Videos, die in Cafés, auf Plätzen, Schulhöfen oder dem Mittelstreifen der Stadtautobahn entstanden und bei aller Heiterkeit einen ungeschönten Einblick in den Alltag der Menschen geben. Lifestyle erhält auf diese Weise etwas ganz und gar nicht Oberflächliches. Wohl wissend, dass viele auf der Welt ein von Not geprägtes Bild von Afrika in den Köpfen haben, wird Konsum zur Botschaft: „Die Zukunft gehört uns“ wird mit bunten Kleidern und schnellen Schritten gezeigt – ohne über heutige Missstände hinwegzutäuschen.
Welchen Einfluss äußere Faktoren auf das Leben der Menschen haben, untersucht der dritte Ausstellungsraum. Auch wenn die Verstädterung in Afrika im globalen Maßstab noch zurückliegt: Sie nimmt zurzeit auf keinem anderen Kontinent schneller zu. Aufschlussreich sind die Fotografien, mit denen David Adjaye für sein Urban Africa Project den baulichen Wandel in 53 Städten dokumentiert hat. Die aufgenommenen Gebäude werden nach Typologien und Funktionen unterteilt und erlauben einen detaillierten Einblick in das Baugeschehen des heutigen Afrikas. Eine andere Seite zeigt der Kurzfilm Excuse me, while I disappear von Michael MacGarry über Kilamba Kiaxi. Das Retortenviertel für mehr als 200.000 Bewohner ist von chinesischen Unternehmen für 3,5 Milliarden US-Dollar in Angolas Hauptstadt Luanda erbaut worden. Weil sich nur wenige das Leben im neuen Quartier leisten können, verkam es zur Geisterstadt.
Neben baulichen Hüllen spielen ebenso Technologien, Materialien und Systeme eine entscheidende Rolle. Eine Antwort auf fehlende Infrastruktur ist das System M-Pesa, das 2007 vom kenianischen Mobilfunkanbieter Safaricom eingeführt wurde. Mit dem Handy kann damit nicht nur bargeldlos gezahlt werden. Auch lässt sich Geld sicher von A nach B überweisen, ohne ein eigenes Bankkonto besitzen zu müssen. Die entsprechende Summe wird in einem Kiosk oder Tante-Emma-Laden eingezahlt. Per SMS-Code kann der Betrag dann anderswo abgehoben werden. In den letzten Jahren ist das System so erfolgreich geworden, dass mittlerweile ein Viertel des kenianischen Bruttosozialproduktes über diesen Dienst abgewickelt wird. Jüngst ist M-Pesa in Rumänien als erstem europäischem Standort eingeführt worden.
Erst Nairobi, dann Paris
Ein Ausblick in die Zukunft wird im vierten und letzten Ausstellungsraum im Obergeschoss des Gehry-Museums geworfen. Für das Lookbook des nigerianischen Modelabels Ikiré Jones fertigte der Illustrator Olalekan Jeyifous Zukunftsvisionen für das Jahr 2081 an. Die Helden emanzipieren sich darin aus eigener Kraft von heutigen Missständen in Laos, Johannesburg und Nairobi, die zu modernen Megacities mit eindrucksvollen Skylines herangewachsen sind. Auf mehreren Schals wird noch ein weiteres Szenario für Paris beschrieben. „Als Immigranten wurden sie verspottet und verächtlich behandelt. Das war vor vielen Jahren. Jetzt schlängeln sie sich durch die Menge der Schaulustigen, als sich die Kameras plötzlich auf sie richten und die Touristen sich fragen, wer sie wohl sind“, erklärt Designer Walé Oyejidé. Afrika, so machen diese Arbeiten deutlich, hat nicht nur die Ambitionen, auf globaler Ebene mitzuspielen. Es hat auch das Zeug dazu.
Vitra Design Museum
www.design-museum.deMehr Stories
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