Stories

Restwert der Wirklichkeit: Made in Slums

Eine Mailänder Ausstellung zeigt, wie in einem Slum bei Nairobi Produkte aus Abfällen entstehen.

von Norman Kietzmann, 08.10.2013

Wie Design nicht nur der Distinktion von Waren dient, sondern ebenso elementarste Bedürfnisse erfüllt, ist derzeit in der Mailänder Triennale zu sehen. Made in Slums heißt die von Fulvio Irace kuratierte Ausstellung, die die Koordinaten der Designbetrachtung in ein Elendsviertel von Nairobi verschiebt. Von den Produkten, die dort mit Pragmatismus, Fantasie und handwerklichem Geschick aus Abfällen entstehen, können auch westliche Gestalter lernen. 

Er gilt als einer der härtesten und gefährlichsten Orte der Welt. Mehr als 500.000 Menschen leben in Mathare, dem zweitgrößten Slum von Nairobi, der sich auf anderthalb Kilometern entlang des gleichnamigen Flusses erstreckt. Wenn sich die unbefestigten Straßen in der Regenzeit in reißende Fluten verwandeln, werden Menschen und Behausungen oft vom Schlamm gleichsam fortgespült. Elektrizität und Kanalisation fehlen ebenso wie eine medizinische Versorgung oder eine ausreichende Anzahl an Schulen. Die Analphabetenrate ist hoch, auch wenn in Kenia längst eine kostenlose Grundschule angeboten wird. Mathare bildet eine Insel, einen in sich geschlossenen Ort, dem nur die wenigsten Bewohner entfliehen können. 

Waren für den täglichen Gebrauch
Was tagtäglich in den Slum hereinkommt, sind die Müllberge aus der fünf Kilometer entfernt gelegenen Hauptstadt. Ganz gleich, ob Holzstücke, Werbetafeln, Blechdosen, Gasflaschen oder Metallplatten: Sie bilden die Basis und den Motor für eine Wirtschaft, die über Abfalltrennung und Rohstoffhandel weit hinausgeht. Produziert werden alle Arten von Waren für den täglichen Gebrauch, die mit einer Mischung aus Pragmatismus, Fantasie und handwerklichem Geschick aus dem Vorgefundenen kreiert werden. Dass es sich lohnt, diese Dinge auch aus gestalterischer Perspektive zu betrachten, zeigt die Ausstellung Made in Slums, die noch bis Anfang Dezember in der Mailänder Triennale zu sehen ist.

Auch wenn die Schau vom Kurator Flavio Irace initiiert und begleitet wurde, oblag die Recherche und Auswahl der gezeigten Objekte Francesco Faccin. Knapp zwei Jahre verbrachte der Mailänder Architekt in Mathare, um im Auftrag der Non-Profit-Organisation Liveinslums eine Schule und einen Gemüsegarten zu errichten. Zeit genug, den auf der Straße und auf Märkten angebotenen Töpfen, Mausefallen, Schuhen, Löffeln, Kellen oder Laternen mit mehr als nur einem flüchtigen Auge zu begegnen. „Die Produkte aus diesem Slum besitzen eine mysteriöse Stärke, die es schwierig macht, sie zeitlich einzuordnen: Sie sind zweifelsohne heutigen Ursprungs und haben einen urbanen Charakter. Doch im selben Moment wirken sie so alt wie die Stämme, die die soziale Textur des Slums bilden“, erklärt Francesco Faccin.

Serienproduktion von Hand
Auch wenn viele Produkte in Serie gefertigt werden, erfolgt ihre Herstellung fast ausschließlich von Hand. Metallplatten werden so oft gegen hölzerne Formen geschlagen, bis sie die Form einer Frittierpfanne annehmen. Rutschfeste Aluminiumbleche, die häufig für die Verkleidung von Safari-Fahrzeugen verwendet werden, dienen als Rohmaterial für Kochtöpfe mit passenden Deckeln. Gasflaschen, die in den wohlhabenden Vierteln zum Kochen dienen, werden in robuste Kocher transformiert, die mit Holz oder Kohle betrieben werden. Auch alte Reifen bleiben nicht ungenutzt und werden zu bequemen wie belastbaren Sandalen weiterverarbeitet, die ihren automobilen Ursprung auch bei genauer Betrachtung nicht auf Anhieb preisgeben. Und mit den Spielzeug-Baggern Tingatinga, die aus geschmolzenem und in Holz- oder Aluminiumformen gegossenen Kunststoff angefertigt werden, entstand eine Serienproduktion, die sogar weit über die Grenzen des Slums hinaus vertrieben wird. 

Die Betrachtung der Exponate erfolgt nicht losgelöst von den Umständen ihrer Entstehung. Videointerviews mit den Bewohnern von Mathare zeigen, wie ihnen neben hygienischen und gesundheitlichen Zuständen ebenso die Kriminalität zu schaffen macht. Banden treiben Schutzgelder ein, und selbst Polizisten fordern von den Slumbewohnern und Ein-Mann-Betrieben immer wieder Geld, sodass die meisten schon beim Anblick einer Uniform ein automatischer Fluchtreflex ergreift. Weil fast niemand über ein eigenes Konto verfügt, werden Einkünfte in einer „Hausbank“ deponiert. Die metallenen, aus leeren Lebensmitteldosen hergestellten Boxen werden im Boden unter den Behausungen vergraben und dennoch allzu oft von Dieben ausfindig gemacht. 


Vorbilder für den Westen 
„In Mathare erleben wir ein ‘Design ohne Designer’, vergleichbar mit der von Bernhard Rudofsky beschriebenen ‘Architektur ohne Architekten’“, erklärt Kurator Fulvio Irace. Rudofsky hatte 1964 die Ausstellung Architecture without architects im New Yorker MoMA organisiert und den Fokus auf eine anonyme, von Nicht-Spezialisten errichtete Architektur gelenkt. Anstatt die Schönheit der vermeintlich „primitiven“ Bauten als zufällig abzutun, wurde sie als Ergebnis menschlicher Intelligenz verstanden, die für einen konkreten, praktischen Nutzen eine sinnvolle Lösung ableitet. Welche Aktualität diese Betrachtung bis heute genießt, zeigte jüngst die Schau Learning from Vernacular im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Auch hier wurden Lehmhütten, Holzbauten und Graskonstruktionen in Entwicklungsländern als Anregungen für ein ressourcenschonendes wie nachhaltiges Bauen im Westen verstanden.

Gewiss lassen sich die Produkte aus Mathare ungleich schwerer als konkrete Vorlagen für industrielle Waren in Europa oder in den USA verwenden. Doch entscheidend ist ihre innere Logik: Produziert wird nur das, was gebraucht wird aus dem, was vorhanden ist. Das Design dient keinem Distinktionsgewinn von einem Hersteller zum anderen, sondern wird zum Motor für die Entwicklung von funktionalen, langlebigen, günstigen und vor allem uneitlen Produkten. Ready-Mades tauchen an dieser Stelle nicht als ironische Haltung auf, sondern werden als praktische wie selbstverständliche Begleiter in den Alltag integriert. Eine wohltuende Erdung, von der auch westliche Gestalter lernen können. 


Made in Slums – Mathare Nairobi
noch bis zum 08. Dezember 2013
La Triennale di Milano

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