Ab durch die Decke
Das erste Wohnhaus von Pierre Jorge Gonzalez und Judith Haase.

Das erste Wohnhaus von Gonzalez Haase Architekten aus Berlin birgt viele spannende Geschichten: Die Episoden sind selbstverständlich, wie sich das für ein zeitgenössisches Format gehört, eng miteinander verwoben.
Es beginnt an einem nasskalten Morgen in Berlin. Das Haus liegt versteckt in einer kleinen Einbahnstraße, die von denkmalgeschützten Altbauten und Baulücken gesäumt wird. Auf den ersten Blick wirkt der Ort wie eine Filmkulisse – gerade weil das urbane Umfeld eine andere, härtere Sprache spricht. Die Gegend verfügt über alle berlin-typischen Merkmale und besticht daher nicht durch äußerliche Schönheit. Es ist ein wildes Durcheinander aus alten Gewerbebauten, Neunzigerjahre-Billigarchitekturen, grauen Plattenbaublocks und einem Industrieareal, das nicht nur von einem großen Berliner Nachtclub, sondern tatsächlich auch noch von der Industrie genutzt wird. Es ist ein Ort, den nicht jeder versteht. Eher eine Gegend für echte Berlin-Liebhaber, die weder vor trister Architektur noch vor schlecht gelaunten Nachbarn zurückschrecken. Genau hier hat Pierre Jorge Gonzalez vor einigen Jahren zusammen mit einer befreundeten Familie ein Grundstück erworben, um ein gemeinsames Baugruppenprojekt zu realisieren. Das Haus teilt sich in drei Abschnitte auf: ein Townhouse, das eine Hälfte des Neubaus ausmacht, und zwei Maisonettewohnungen.
Pierre Jorge Gonzalez und Judith Haase warten schon vor der Haustür. Da die Straße nur sieben Meter Breite misst, ist das Abstellen von Autos verboten. Eine für Berliner Verhältnisse sehr aufgeräumte Atmosphäre, auch deshalb fühlt man sich wie auf einer Bühne und nicht wie in der real existierenden Stadt. Die reduzierte Fassade des Neubaus aus hellem Putz fällt auf den ersten Blick kaum auf. „Die gesamte Straße steht unter Denkmalschutz“, erklärt Gonzalez auf Englisch mit seinem charmant französischen Dialekt. „Wir sind hier der erste Neubau seit der Wende – dementsprechend kritisch wurde unser Entwurf bewertet. Alles musste mit den Behörden abgestimmt werden.“ Für die beiden Architekten sind die Umstände, wie das Erscheinungsbild ihres Baus durch die Restriktionen Berliner Ämter entscheidend geprägt wurde, dennoch nebensächlich, denn die Hülle des Hauses ist nicht der Grund, warum wir uns hier treffen. „Das Haus wurde aus der Funktion heraus, von innen nach außen entworfen“, erklärt Judith Haase. Also treten wir ein.
Schon das Treppenhaus besticht durch ein für Gonzalez Haase typisches Zusammenspiel aus Material und Licht. Hier trifft die Höhlenhaftigkeit des Betons auf ein enges Metallgewebe. Und durch einen Fensterschlitz, der sich über die gesamte Gebäudehöhe zieht und das Haus vertikal teilt, gelangt Tageslicht ins Innere. Den Architekten ging es immer darum, den Raum maximal zu öffnen: „Denn der größte Luxus beim Wohnen sind doch Licht und Volumen“, meint Judith Haase. Loos’ Raumplan war eines der Vorbilder bei der dreidimensionalen Modellierung der Innenräume, die im Kontrast zum Außenraum nicht spektakulärer hätten gelingen könnten. Vertikale Verbindungen zwischen den Geschossen, verspringende Ebenen und unterschiedliche Raumhöhen sorgen für ein stetiges Spannungsverhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem, geschlossen und offen. So wirkt das Townhouse, das den größten Teil des Neubaus einnimmt, wie eine introvertierte Raumskulptur. Allein zum kleinen Hinterhof und angrenzenden Industrieareal entwickelten die Architekten eine Verbindung. Zum Teil verwendeten sie Schiebetüren als Fenster, um eine größtmögliche Öffnung zu erreichen. Ein radikaler Gegenentwurf zur Straßenfassade, die sich an das steinerne Umfeld anpasst.
Bei der Oberflächenwahl in den drei Wohneinheiten zeigen sich die jahrelangen Erfahrungen von Gonzalez Haase im Innenausbau. Industrieböden, weiß verputzte Wände und Decken und Einbauten aus unbehandeltem Fichtenholz erzeugen eine helle und wohnliche Atmosphäre, die durch warmes Kunstlicht getragen wird. Erstaunlicherweise schaffen es die Architekten aber auch, das Tageslicht über eine geschickte Lichtführung von einer Seite des Gebäudes bis zur anderen zu leiten. Durch Fensterbänder in den Wänden und Spiegel dringt es trotz der Enge der Straße bis in jedes Zimmer vor. Mit ihrem ersten Wohnungsbau gelingt den beiden Berliner Gestaltern nicht nur eine Erweiterung ihres Portfolios – ihnen ist unter schwierigen Bedingungen ein beeindruckendes Bauwerk geglückt, das sich klug den widrigen Gegebenheiten entzieht.
FOTOGRAFIE Thomas Meyer
Thomas Meyer

Gonzalez Haase AAS
Zum ProfilvGGG Building
Baugruppe in Berlin für drei Parteien, Ohmstraße in Berlin-Mitte, 960 Quadrameter, 2013–2016
DEAR Magazin
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