Alles andere als blickdicht
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Der Hotelier André Balazs, kürzlich durch das Männermagazin GQ zu einem der zehn best gekleideten Männer Amerikas gekürt, gehört zweifelsohne zu den VIPs des internationalen Hotelgeschäfts. Mit einer Neueröffnung im Frühjahr dieses Jahres vergrößerte er die Familie seiner Hotelmarke „The Standard“ um ein weiteres Aufsehen erregendes Mitglied. Nach Standorten in Hollywood, Downtown LA und Miami Beach bietet der in Ungarn geborene Hotelmogul seinen anspruchsvollen Gästen nun auch eine adäquate Übernachtungsmöglichkeit in der Weltstadt New York. Balazs wird ein Händchen für gute Immobilienlagen nachgesagt. Die Standortwahl des New Yorker „The Standard“ unterstreicht seine Fähigkeit. Die Presse reagiert entsprechend gut gelaunt. Alles andere als Standard sei das Hotel, wird da gekalauert, denn „The Standard“ hebe den Standard.
Sicher, die Immobilienlage ist nur ein Teil des Paketes, das Balazs mit geübter Nase geschnürt hat, und dennoch hat sie sich als überzeugende Inspirationsquelle für Architektur und Interior Design erwiesen. Denn eines ist augenfällig: Ohne den atemberaubenden Blick, den das Gebäude auf New York ermöglicht, wäre dieses Luxushotel nur halb so ungewöhnlich. Und diesem Blick unterwirft sich, zu recht, auch das Gestaltungskonzept. Am Rande des Hudson River erhebt sich das „The Standard“ als 80 Meter hoher Gigant aus Beton und Glas über der vorrangig flachen Altbau-Struktur des Meatpacking District – der Gegend, die Anfang des letzten Jahrhunderts Schlachthäuser und Abpackanlagen beherbergte und nach einer Karriere als Drogen- und Sexclubviertel in den 1990er Jahren zum Tummelplatz der Schönen und Reichen transformierte. So wird das Hotel auf der einen Seite von Lagerhäusern und auf der anderen Seite von der Boutique von Stella McCartney flankiert und schwebt – ein weiterer geschickter Schachzug – als leicht abgewinkelte Scheibe auf hohen Betonpfeilern direkt über der High Line, einer stillgelegten Hochbahntrasse, die Anfang Juni an dieser Stelle als Parkanlage, der zweitgrößten nach dem Central Park, der öffentlichen Nutzung wieder zugeführt wurde. Todd Schliemann, bekannt für klare und kraftvolle Entwürfe, aus dem New Yorker Architekturbüro Polshek Partnership konzipierte übrigens das Gebäude.
Zimmer mit Aussicht
Das 20-stöckige Hotel geht in seiner Schnörkellosigkeit nur haarscharf an der Brutalität funktionaler Bauten der 1970er Jahre vorbei. Doch ist dieser Vergleich oberflächlich, denn Schliemann beweist eher Radikalität als Pragmatismus. Das Gebäude mit seinen 337 Hotelzimmern spielt mit Konsequenz die einmalige Aussicht, die seine einmalige Lage bietet, aus. Die Glasfassade öffnet den Innenraum ohne Pardon nach außen. Raumhohe Fenster, kristallklar, nicht eingefärbt und nicht verspiegelt, lassen die Hotelgäste über der Stadt schweben und die Hotelräume zu Aussichtsplattformen werden – südwestlich schweift der Blick weitläufig über den Hudson River bis hin zur Freiheitsstatue, im Nordosten wandert er über eine schroffe Dachlandschaft hin zum Empire State Building.
Dem New York Observer veranschaulichte der Architekt sein Konzept mit einer Anekdote. Mit heimlicher Freude beobachtete er auf der Washington Street stehend ein Zimmermädchen im kurzen Röckchen bei ihrem Tagwerk: The New York Standard ist gewollt blickdurchlässig und der konsequente Ausblick bedingt eben auch einen konsequenten Einblick: Wer sich hier einquartiert, sollte sich nicht zieren.
Empfangen wird der Gast ebenerdig. Eine Drehtür, leuchtend gelb wie New Yorker Taxis, markiert den Eintritt zur Hotellobby und ein in den Boden eingelassener Lichtstreifen weist den Weg zur Rezeption. Mit klassischer Eleganz, auf Hochglanz polierte Steinplatten mit dramatischer Maserung bilden die Rezeptionstresen, schwarze Deckenplatten spiegeln den Raum in die Tiefe, gibt der Empfangsraum eine Vorgeschmack auf den Einrichtungsstil des Gebäudes. An die 1950er Jahre und Vorbilder wie Eero Saarinen, Mies van der Rohe oder Arne Jacobsen soll erinnert werden. Die Gestaltung der Innenräume übertrug Hotelbesitzer Balazs dem aus dem Filmgeschäft kommenden Designer Shawn Hausman, kreativer Partner auch schon bei vorangegangene Hotelprojekten, und dem New Yorker Designbüro Roman and Williams alias Stephen Alesch und Robin Standefer. Im geschmackvollen Understatement, dezent eingesetzte Holzverkleidungen, leichtes Mobiliar, streng gepolsterte Sitzgelegenheiten, fließende Übergänge, gibt der Rückgriff auf den Schick vergangener Zeiten den Hotelzimmern eine wohnliche Atmosphäre – auch im Bad.
Sehen und gesehen werden
Fließende Übergänge und das Konzept der Blickdurchlässigkeit ziehen sich durch bis hin zu den Badezimmern – keine künstlich beleuchteten Kabinen, in denen man sich eingeschlossen fühlt wie in einer Besenkammer. Glasscheiben statt Wände geben den Blick in die Zimmer und umgekehrt auf den sich Duschenden frei. Der radikale Umgang mit der Intimsphäre der Gäste führte dann auch umgehend zu bissiger Kritik auf einschlägigen Blockseiten wie dem HotelChatter, auf denen das neue „The Standard“ seit Beginn der ersten Bauphase unter strenger Beobachtung steht. Kleinlich oder menschlich? Die Suiten des Hotels wiegen die fehlende Intimsphäre auf jeden Fall mit der Möglichkeit auf, beim Baden und sogar beim Toilettengang den freien Blick über den Big Apple zu genießen. Im offenen Grundriss werden die unterschiedlichen Funktionen des Hotelzimmers durch den Einsatz unterschiedlicher Materialien abgegrenzt. Der Bereich der Körperpflege ist gefliest mit maß- und handgefertigten Fliesen. Die Badewanne steht frei und mitten im Raum als einzige objekthafte Begrenzung und als zusätzliche optische Trennung beider Funktionsbereiche.
Diese Offenheit erfordert wohl eine gewisse Freizügigkeit der Gäste, entschädigt aber dafür mit Raumerlebnis und einem Gefühl von nonchalant modernem Lebensstil.
FOTOGRAFIE Thomas Loof
Thomas Loof
Links
The Standard
www.standardhotels.comPolshek Partnership Architects
www.polshek.comRoman & Williams
www.romanandwilliams.comThomas Loof
www.thomasloof.comMehr Projekte
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